: Stahl: Streit um Markt, der keiner ist
■ Frankreich und die Bundesrepublik widersetzen sich einer Liberalisierung des EG–Stahlquotensystems / Heute soll der EG–Industrierat entscheiden
Von Andreas Knie
Berlin (taz) - Wenn hierzulande von Marktwirtschaft die Rede ist, darf nicht vergessen werden, daß ganze Schlüsselbereiche nach allen möglichen Gesetzen funktionieren - nur nicht nach denen des Marktes, und dies gilt nicht nur für die vielzitierte europäische Landwirtschaft. Seit 1980 werden die Stahlkonzerne der EG durch ein behördlich festgelegtes Mindestpreis– und Höchstmengensystem vor dem gegenseitigen Totkonkurrieren geschützt. Heute nun berät in Brüssel der EG–Industrierat darüber, ob der administrative Schutz aufgegeben, und alles wieder den Marktkräften überlassen wird. Nachdem die Bundesregierung im Glauben an die konkurrenzfähige deutsche Stahlindustrie der Wiedereinführung des Marktes das Wort redete, gehört sie nun, da es ernst wird, zu den Blockierern. Auf einer Sitzung des EG–Ministerrates Mitte Oktober trotzten Frankreich und die Bundesrepublik der zuständigen Behörde, der Kommission für Kohle und Stahl (EGKS), die eine Reihe von Stahlprodukten von der Reglementierung herauslösen wollte. Ein zaghafter Versuch war zum 1.1.1986 geglückt: Bei Betonstählen, vorwiegend in minderer Massenqualität hergestellt und einigen Sorten beschichteter Bleche wurde der Regulierungskodex abgebaut. Auf der Wunschliste der EGKS standen mit Walzdraht, Stabstahl und verzinkten Blechen weitere Produkte zur Freigabe an. Die EGKS hängt in ihrer Entscheidung allerdings vom Votum des EG–Ministerrats ab. Schenkt man bspw. dem zuständigen Bonner Staatssekretär v. Würzen Glauben, wird aus einer weiteren Liberalisierung des EG– Stahlmarktes nichts werden. Der hierfür notwendige Kapazitätsab bau und Umstrukturierungsprozeß sei noch nicht abgeschlossen, d.h. einige deutsche Stahlproduzenten könnten dann wieder in der Konkurrenz der jeweiligen nationalen Subventionswettläufe unterliegen. Auch wenn von den vielen Freunden und Verteidigern der Marktwirtschaft in dieser Republik viel Schelte für den Staatssekretär und seiner Vorliebe für protektionistische und reglementierende Staatseingriffe zu hören sein wird, könnte es sich doch um eine kluge und durchaus weitsichtige Entscheidung handeln, denn: Die Stahlbranche ist zwar weitgehend aus den Schlagzeilen - nicht aber aus der Krise entschwunden. Auch wenn einige Stahlkonzerne, wie etwa der Thyssen Konzern und die Hoesch AG nach Mrd. DM Defiziten in den letzten beiden Jahren ein kleines Plus im Stahlbereich erwirtschafteten, deutet sich doch eine neue Krisenrunde ge rade für die europäische Stahlindustrie an. Das EG–Quotensystem war aber gerade für die Regulierung einer solchen Situation erfunden worden und könnte mithin dringender denn je gebraucht werden. Seit Beginn der Stahlkrise, im Jahre 1975, hat sich die Struktur der Branche verändert. Verlierer auf dem Weltmarkt sind vor allen Dingen die EG–Staaten, die von 22 16,9 USA (von 19,1 ) und Japan, dessen Weltmarktanteil immerhin auch von 17 15 die Staatshandelsländer ihren Anteil von 30 steigern konnten. Unumschränkter Stahlproduzent Nr. 1 ist nach wie vor die UdSSR, die mit 154 Millionen Tonnen Stahl pro Jahr über 30 Mio. Tonnen mehr produziert als die gesamte EG. Stark aufstre bende Tendenzen zeigen im übrigen noch die sogenannten Schwellenländer wie Brasilien, Venezuela, Süd– und Nordkorea. Insgesamt ist die Stahlindustrie weltweit keineswegs eine Schrumpfbranche. Wurden im Boomjahr in der Welt zusammen 709 Mio. Tonnen Stahl geschmolzen, fielen Produktionswerte zwar bis 1978 leicht ab (678 Mio. Tonnen), stiegen diese aber, wenn auch 1982 kurz unterbrochen, 1984 wieder auf 711 Mio. Tonnen an. In einer Stahlkrise befinden sich also nur die traditionellen Industrieregionen USA, EG und Japan. Als Antwort wurde in diesen Nationen Produktionsstrategien entwickelt, die sich nach dem Motto „Klasse statt Masse“ ausrichteten. Das Ende des Massenstahls und die Orientierung auf Edelstahle und hochwertige Walzprodukte mußte allerdings mit einem drastischen Arbeits platzabbau bezahlt werden. Allein in der Bundesrepublik blieben von 245.000 Arbeitsplätzen noch knapp 150.000 übrig und der Abbau von mindestens weiteren 15.000 Arbeitsplätzen ist bereits angekündigt. Um diese Stillegungen „sozialverträglich“, also ohne größere Widerstände von Gewerkschaften, Beschäftigten und Bevölkerung überhaupt durchführen zu können, wurde auf Regelungen des bereits 1953 geschlossenen europäischen Montanvertrag zurückgegriffen: Wird wesentlich zuviel Stahl produziert als abgesetzt werden kann, sind also die jeweiligen Stahlproduzenten in ihrer Existenz gefährdet, beginnt die EG–Behörde damit, Stillegungsprämien auszuschütten und die Marktanteile genau zu fixieren. So sieht der Artikel 57 jenes Vertragswerks zunächst die Festsetzung von Orientierungs– bzw. Mindestpreisen für betroffene Stahlprodukte vor. Wenn schließlich eine „offensichtiche Krise“ festgestellt wird, kann die EG–Kommission mit Zustimmung des Ministerrates Preise und Produktionsmengen (Quoten) für Stahlprodukte verbindlich festlegen und bei Mißachtung Strafen aussprechen. Nachdem zunächst die Stahlkapitalverbände über die Gründung einer supranationalen Interessenvertretung, des EUROFER–Kartells erfolglos eine freiwillige Produktionsbeschränkung versucht hatten, ist seit 1980 ein solcher Notstand auf dem EG– Stahlmarkt ausgerufen. Neben diesen EG internen Regelungen spielt sich jedoch der eigentliche Absatzkampf auf dem bedeutendsten außereuropäischen Markt, den USA, ab. Seit die Vereinigten Staaten mit ihrer maroden Stahlindustrie 1959 zum Nettoimporteur wurden, streiten sich Japan und Südkorea und die EG–Stahlproduzenten um die Käufer und erreichten Anfang der 80er Jahre einen Marktanteil von zusammen 25 der 70er Jahre versuchte die US– Administration durch Selbstbeschränkungsabkommen und Anti–Dumping–Klagen auf der Grundlage einer, von den USA festgelegten Kostenstruktur (Trigger–Preis–System) die heimische Industrie abzuschotten. Mit Beginn der Reagan Administration wurde die Stahlindustrie zur nationalen Aufgabe erklärt und die Einfuhren auf max. 18 % Marktanteile festgesetzt. Insbesondere mit der EG wurden Verhandlungen über „freiwillige Selbstbeschränkungsabkommen“ bei qualitativ hochwertigen Stahlsorten abgeschlossen. Bedenkt man, daß gerade die USA für die deutsche Stahlindustrie einen wichtigen Absatzmarkt darstellte, und daß der spezifische Stahlverbrauch in den hochentwickelten Industrienationen auf der Grundlage der zur Zeit gültigen Wachstumsziffern sogar um 1 dann wird die Haltung des Staatssekretärs v. Würzen verständlich: Mit „mehr Markt“ ist die neue Runde der EG–Stahlkrise sicherlich nicht zu lösen.
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