Wenn der Taucher die „Titanic“ verläßt

■ Ein Froschmann soll Rheingrund von Quecksilberrückständen säubern / Abgetauchter Sandoz–Konzernchef kündigt ökologische „Pionierleistung“ an / Giftmischer Sandoz verlagert Lagerrisiko für Wirkstoffe auf Zulieferfirmen

Aus Basel Thomas Scheuer

„Vom Baden und Tauchen wird dringend abgeraten“ - das knallgelbe Warnschild hat das kantonale Amt für Umweltschutz knapp zehn Meter neben dem Rheineinlauf Nummer 26 in den Boden rammen lassen. Den österreichischen Berufstaucher Anton Frager ficht die Tafel nicht an: Seit Montag gründelt der Kärntner täglich rund sechs Stunden im Einflußbereich jener Betonrinne, durch die dem Fluß am 1. November mit der Einleitung des Löschwassers vom Sandoz–Brand die tödliche Überdosis verpaßt wurde. Mit einem Saugrohr soll der Schnorchelmann den Schlamm am Grund des Flusses von jenen quecksilberhaltigen Giftresten befreien, die nach Befürchtungen von Fachleuten bei einsetzendem Regen und folgendem Hochwasser zu einer dritten Giftwelle führen könnten. Auf rund 100 Quadratmeter wird die am stärksten kontaminierte Fläche geschätzt. Der rote Markierungsstoff des Giftes, der den Fluß für Tage verfärbt hatte, erweist sich nun als Vorteil: So kann der Taucher leichter die verschmutzten Stellen ausmachen. Durch einen langen Schlauch wird der verseuchte Schlamm in Tankwagen am Ufer geleitet. Die hohe körperliche Belastung zwingt den Froschmann immer wieder zu Erholungspausen. Dann krabbelt Frager - im Visier zahlreicher Fotografen und Kameraleute - auf das am Ufer verankerte Arbeitsschiff und läßt sich von Feuerwehrleuten sorgfältig absprit zen. Auf dem Rettungsring hinter ihm prangt in großen Lettern der Schiffsname „TITANIC“. Warum ist nur ein Taucher im Einsatz? Warum mußte ein Österreicher anreisen? Fragen kursieren unter den Schaulustigen - und Gerüchte. Einer will wissen, in Basel und Umgebung ließe sich kein Freiwilliger finden, um die giftigen Kastanien für Sandoz aus dem Fluß zu holen. „Das ist doch nur eine Schau für die Medien“, meint Herr Nebiger aus dem Nachbardorf Augst. Er führt das größte Angelgeschäft der Gegend: „Das kann ich praktisch zumachen.“ Tatsächlich mutet die Schwerarbeit des Unterwasser– Putzteufels, der mit seinem kleinen Saugrüssel durch den Grundschlamm des mehrere hundert Meter breiten Stroms schlürft, doch etwas kosmetisch an. Abgetaucht ist seit der Katastrophe auch der höchste Verantwortliche des Konzerns, Verwaltungsratspräsident Marc Moret. Ob seines Tauchganges öffentlich heftig angeschossen, ließ er sich Anfang dieser Woche erstmals zu einem Interview herab. Im Boulevard–Blatt Blick, dem Bild– Pendant der Schweiz, kündigte er ökologische Wiedergutmachung an: „Wir möchten die besten Ökologie–Spezialisten aus aller Welt nach Basel holen.“ Der Konzern sei bereit, bei der Wiederbelebung des Rheins „eine Pionierleistung zu erbringen.“ Die immensen Kosten? Marc Moret: „Wir können bezahlen und werden bezahlen.“ Draußen an der Einflußstelle Nummer 26 begutachtet der ame rikanische Tauchexperte Tony Baiker aus Kalifornien die Arbeit seines österreichischen Kollegen: Die angewandte Technik und die Ausrüstung seien zwar die beste in Europa verfügbare, aber doch veraltet. Er und seine Leute würden drüben bei der Goldsuche im Meer weit besseres Material einsetzen. In einem Tag, so Baiker, könnte seine Ausrüstung bei Bedarf eingeflogen werden. Da taucht der Österreicher wieder auf, in der Hand eine Plastikpulle mit Schlammproben. Für die Fotografen wird die Arbeit plötzlich erschwert: Aus dem Abwasserschacht quillt dichter Dampf, es stinkt bestialisch nach Ammoniak. Chemie–Alltag an Einflußstelle Nr. 26. Weiter unten, berichtet Ex–Angler Nebiger, führe ein Rohr aus der Kläranlage in Pratteln die Abwasser von Ciba– Geigy in den Rhein. An einer bestimmten Kreuzung, schlägt Nebiger mir vor, „da müssen Sie mal den Kanaldeckel heben, das hält Ihre Nase nicht aus“. Ciba–Geigy machts geschickter: Das Abflußrohr mündet unter der Wasseroberfläche weit draußen im Fluß. „Sandoz, Ciba–Geigy, Hoffmann–LaRoche: drei Konzerne - ein Markenzeichen“, heißt es auf einem großen Spruchband, das Greenpeace am Dienstag an der Mittleren Rheinbrücke in Basel befestigte. Neben dem Spruch das Markenzeichen: ein riesiger schwarzer Totenkopf. Der Unglücksort gleicht inzwischen von weitem einem riesigen Festzelt: Die Zeltkonstruktion soll den Brandplatz vor möglichen Niederschlägen schützen. Ironie: Just die Halle 956 diente während der 100–Jahrfeier des Konzerns im Sommer tatsächlich als Festzelt. Eine Risikoverlagerung ist die erste Konsequenz der Sandoz– Konzernleitung aus der Brandkatastrophe: Die Firma will zukünftig auf die Eigenproduktion bestimmter Wirkstoffe verzichten, die bei der Herstellung von Insektiziden gebraucht werden, und diese statt dessen von Zulieferfirmen beziehen. Produktion und Vertrieb der Insektizide selbst sollen nicht eingeschränkt werden. Sandoz wälzt also lediglich das Lagerrisiko für die Wirkstoffe auf andere Firmen ab. Mit 323 Tonnen lag Disulfoton, das in den Insektiziden mit den Handelsnamen „Frumin“ und „Solvirex“ enthalten ist, mengenmäßig an der Spitze der in der Unglücks–Halle 956 gelagerten Stoffe. Zu den weltweit bedeutendsten Produzenten der genannten Wirkstoffe gehört der deutsche Chemie–Riese Bayer.