: Reaktive Chemiepolitik reicht nicht Forderung nach „sanfter Chemie“
■ Bei einer Anhörung der Grünen zum Sandoz–Unglück wurde deutlich: Auch Experten sind mit Aussagen zu Giftfolgen überfordert / „Absolute Minimierung bei Produktion und Verbrauch von Chemikalien erforderlich“
Aus Bonn Ursel Sieber
„Die Sandoz–Katastrophe hat gezeigt: Die Wissenschaftler wissen nichts“, sagte Wolfgang Linden von der Kölner Katalyse–Gruppe. Und die Kollegin vom Ökoinstitut Freiburg, Birgit Grahl, ergänzte, bisher fehle „jede Voraussetzung“ für wissenschaftliche Aussagen über die Umweltgefahr von Chemikalien. Die fehlende „Aussagekraft von Daten“, die geringen Kenntnisse über die Reaktionsweisen von Chemikalien und die Hilflosigkeit der Experten standen im Mittelpunkt einer Anhörung, zu der die Bundestagsgrünen gestern Umweltschutzverbände und Bürgerinitiativen geladen hatten. Bernhard Pelzer (BUND) nannte als Beispiel das Wattenmeer. Das Gift werde sich dort sammeln, Schäden werde es mit Sicherheit anrichten, das Ausmaß könne heute niemand absehen. Gehandelt werden müsse allerdings nach dem jetzigen Kenntnisstand, sagte Birgit Grahl. Ihre Forderungen: eine „absolute Minimierung des Chemikalienstandes“, die Offenlegung der Risikopotentiale (“die Bevölkerung muß wissen, mit welchem Risiko sie lebt, wenn sie auf bestimmte Produkte nicht verzichten will“) sowie die Stärkung der behördlichen Kontrolle. So zielte die Veranstaltung in weiten Teilen über die Sandoz– Katastrophe hinaus. In den Vordergrund rückte einmal die „alltägliche Katastrophe“, vor allem im Einsatz von Pestiziden und Herbiziden in der Landwirtschaft: Bei etwa 500 Trinkwasser–Brunnen sei z.B. bereits die „besonders bedenkliche“ Anreicherung von Herbiziden aus dem Maisanbau festzustellen, sagte Martin Böhme (BBU). Gleichzeitig war das Bedürfnis groß, von der hilflosen „Verwaltung von Katastrophen“ wegzukommen. „Eine reaktive Chemiepolitik ist nicht in der Lage, die kriminelle Moral der IG–Farben–Enkel zu ändern“, betonte Wolfgang Linden. Auch eine „Wissenschaft nach dem Abflußrohr“ sei überfordert. Die Fraktionssprecherin Hannegret Höneß sprach von der Notwendigkeit, nach der Debatte um den Atomausstieg den Ausstieg aus der Chemieindustrie zu forcieren. Die Chemieindustrie habe wie keine andere die finanziellen Ressourcen für eine Umstellung der Produktion auf eine „sanfte Chemie“. Bei der Frage „Was tun?“ wurde eine Reihe von Vorschlägen gemacht: Städtepartnerschaften zwischen Basel, Soveso, Hamburg und Leverkusen wurden empfohlen. Am 14. Dezember sollen entlang des Rheins Aktionen stattfinden, Produkte von Sandoz und Ciba Geigy sollen boykottiert werden. Innerhalb der Grünen hat das Sandoz–Unglück gleichzeitig alte Konflikte um den grünen Umweltminister Fischer (Hessen) zugespitzt: Hannegret Höneß sagte, Hessen sei ein „Brennspiegel“ aller Probleme. Der Verursacher des „Müllnotstandes“ in Hessen sei Hoechst und nicht Joschka Fischer. Dennoch müsse Fischer der Chemieindustrie dort „langsam auf die Füße treten“. Die Konfliktbereitschaft, die sie von der SPD fordere, müsse man gerade von einem grünen Minister erwarten, so Höneß. Sprecherin Jutta Ditfurth nannte ihren Parteikollegen sogar einen „Giftmakler“.
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