piwik no script img

Zwischen Jesus und Prometheus

■ Ingeborg Drewitz starb im Alter von 63 Jahren / „Balanceakt“ zwischen Wirklichkeit und Utopie / Engagement in Tat und Schrift

Bis zum äußersten bemüht, bis zum äußersten ermüdet, starb in der letzten Nacht, krebskrank, die Berliner Schriftstellerin Ingeborg Drewitz. Sie lebte eingekreist, belächelt, verdächtigt, und bespitzelt an Grenzen und Gefängnistoren. „Was wäre, wenn wir Lügen Lügen sein lassen würden, falsche Aussagen nicht widerlegten, manipulative Informationen, propagandistische Schönfärberei hinnehmen würden?“ Sie nannte das „Balanceakt zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte,“ und sie versuchte es täglich. War es genug? Verschwieg sie ihre Müdigkeit und Verzweiflung? In den Briefwechseln mit Inhaftierten, mit Leuten, die mit Berufsverbot leben müssen, mit Ausländern, die in der Bundesrepublik Deutschland nicht daheim sein dürfen, war sie selbst nicht Hauptthema. Es ist nicht zufällig, daß sie von Krankheit zu Tode verzehrt wurde. In Verzweiflung trieb sie die Frage, ob ein Mensch so stark wie Prometheus oder ob er so segensreich wie Jesus sein könne. Ihre Sprache zeugt zugleich von Zerbrochenheit als auch von Sensibilität für den Nächsten. Ingeborg Drewitz steht für Verwüstung und Aufstand einer ganzen Provinz Deutschlands jenseits der Elbe, wo sie 1923 geboren ist. Ihre von Anfang an große Wut setzte sie zuerst in Hörspiele um. Es folgten Theaterstücke, durch kleine Verlage wurde sie bekannt, bis der Claassen–Verlag sie als Autorin betreute. Zu ihren Werken zählen die Biographie der Bettina von Arnim (1969) sowie die Romane „Wer verteidigt Katrin Lambert“ (1954), „Das Hochhaus“ (1975) und „Gestern war heute - Hundert Jahre Gegenwart“ (1978). Ingeborg Drewitz, 1923 in Berlin geboren, wurde 1941 nach dem Abitur zum Arbeitsdienst und Kriegshilfsdienst verpflichtet. Daneben studierte sie Philosophie und schloß mit der Promotion zum Dr. phil. ab. Seit 1945 war sie als Schriftstellerin tätig. Neben ihrer Tätigkeit im VS war sie lange Jahre im Präsidium des PEN–Zentrums der Bundesrepublik und beteiligte sich an der ersten Zusammenfassung sozialer Daten der westeuropäischen Schriftsteller. Aus ihren Erfahrungen mit Gefangenen entstanden die von ihr herausgegebenen Bände „Schatten im Kalk. Lyrik und Prosa aus dem Knast“ (1979). Die Schriftstellerin wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem 1963 mit dem Ernst–Reuter–Preis, 1970 mit dem Georg–Mackensen–Literaturpreis und 1980 mit der Carl– von–Ossietzky–Medaille der Internationalen Liga für Menschenrechte. Ihre politische Zielvorstellung war der emanzipatorische Sozialismus, Widerstand gegen die hierarchische Technokratie. Sollen wir beklagen, daß sie unentschieden zwischen Jesus und Prometheus blieb? Philipp Wambolt

Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen