piwik no script img

Studenten gehen auf die Barrikaden

■ In Frankreich werden Erinnerungen an den Mai 68 wach / Aus Paris Georg Blume

„Zu guten Revolten gehört wirklich gutes Wetter,“ schrieb 1831 der Korrespondent der Augsburger Allgemeinen, Heinrich Heine aus Paris. Noch die Studenten von 1968 nahmen sich diesen Ratschlag zu Herzen und revoltierten im Mai. Die Studenten vom November 86 wollen heute von solchen historischen Vorgaben nichts wissen. „Wir brauchen keinen Frühling, und das ist neu. Wir wissen, was wir wollen, auch wenn niemand von uns je Politik gemacht hat.“ Alain Guillemoles, Geschichtsstudent an der Sorbonne und Pressesprecher des Streikkomitees an der Prestige– Uni will sich seinen Optimismus angesichts der trüben Wetteraussichten nicht nehmen lassen. Die Revolte kommt schnell. Am Montag vergangener Woche streiken die ersten Studenten, am Sonnabend erklären Delegierte aus dem ganzen Land den Generalstreik, heute liegt die Hälfte des französischen Universitätsbetriebs lahm. Die Gymnasiasten wollen der Bewegung nicht hinterherlaufen. An diesem Montag verkünden die ersten „lycees“ den Streik, einen Tag später demonstrieren die Schüler spontan: 4.000 in Paris, 2.500 in Marseille, 4.000 in Dijon, 3.000 in Lille, noch einmal 3.000 in Lille, undsoweiter. Universitäten und Schulen werden im Nu zu riesigen Diskussionsforen. Streikkomitees schießen wie Pilze aus dem Boden. Überfüllte Vollversammlungen in Jubelstimmung überall. Sie fordern die Aufgabe der Universitätsreform, die Hochschulminister Devaquet am gestrigen Abend dem Parlament vorlegte. Es ist die erste Demonstration, zu der im Voraus aufgerufen wurde. Die Revolte kommt schnell. Und damit - obwohl im November - wird sie der Tradition gerecht. „Frankreich langweilt sich“ war das Fazit einer Analyse von Le Monde im März 68, als es im Ausland bereits an verschiedenen Universitäten zum Aufstand der Studenten gekommen war. Einige Tage später war Dany Cohn–Bendit ein Held. „Was sind sie doch vernünftig, diese Studenten! Und wie übermäßig angepaßt sie sich geben!“ Derart faßt „Le Monde“ noch am letzten Sonntag einen umfangreichen Bericht über die aktuelle Studentenkultur zu sammen. Zwei Tage später war die Zeitung wiederum widerlegt. Frankreichs Revolten, vom Sturm auf die Bastille bis zur Volksfront 1936, von den Julirevolutionen bis zum Mai 68 kamen immer plötzlich und ohne Ankündigung. Nicht anders der November 86. Niemand hatte sie vorausgesagt, niemand hatte sie erwartet. Die Revolte aber ist da. Frankreich vibriert. Die siebziger und achtziger Jahre liefern keine vergleichbaren Ereignisse. Die Universitätsreform von Devaquet ist der Auslöser der Bewegung, im Mai 68 waren es die Besuchsbeschränkungen in den Studentenheimen. Was macht da den Unterschied? In Wirklichkeit liegt ein Wort auf den Lippen der neuen Protestgeneration: legalite - die Gleichheit. Es ist das alte Wort, das mit „sos–racisme“ und der in Frankreich stärker als anderwo aufgekommenen Antirassismusbewegung seit 1984 erneut die Runde macht. Die Studentenführer von heute organisierten das „SOS–Rassismus“ von gestern. „Die Gleichheit war noch nie aus der Mode,“ sagt eine Schülerin, und Alain Guillemoles von der Sorbonne erklärt: „Die Reform, das ist die Ungleichheit an der Uni. Die Abiturienten werden nicht mehr in einer für alle gleichen Situation sein, weil die Universitäten sie mit der Reform verstärkt auswählen können. Die Abschlüsse werden nicht mehr die für alle gleichen sein, da man sie in Zukunft nach der jeweiligen Uni qualifizieren wird. Ungleichheit am Anfang und am Ende.“ Das ist ernst gemeint, und so soll es auch verstanden werden. Ähnlich reden sie alle. Darüber hinaus will man nicht gehen. „Unsere Bewegung ist apolitisch,“ sagt der neunzehnjährige Literaturstudent Laurent Ferry. Die Demonstration am Donnerstag lief unter keiner politischen Etiquette, nicht einmal der des Studentenverbands. Und doch ist offensichtlich, wer die Bewegung führt. Neben den „sos–racisme“–Initiatoren, die den Sozialisten nahe stehen, beteiligen sich vorallem linksunabhängige und trotzkistische Studenten. Aber das ist kein Thema. Es gibt Unterschiede - keine Konfrontation. „Heute hat sowieso niemand mehr ein politisches Programm, nicht einmal die Parteien,“ sagt Laurent Ferry. Keine französische Revolte hatte je ein politisches Programm, wohl aber einen politischen Nährboden. Die Studenten und Schüler vom November 86 haben - wie der Schülersprecher von dem Pariser Vorort St. Denis unter tosendem Beifall in einem überfüllten Uni–Hörsaal schreit - „die Schnauze voll.“ (“Ras–le–bol!“) „Die Schnauze voll“ hat eine Generation, die die Rechte an der Regierung nie erlebte, unter den Sozialisten nur die Langeweile kannte und nun seit acht Monaten das „Cohabitations“–Theater Mitterrand–Chirac beobachtet. Ein Theaterspiel der Machtintrigen, aber auch des nationalen Konsens, bei dem die Opposition fehlt, während sich klammheimlich die Wende einschleicht. Daß Ausländer inzwischen in Massen ausgewiesen und bevorzugt kontolliert werden, daß Drogenabhängige in Zukunft in den Knast sollen, daß die Regierung sich mit 3 Millionen Arbeitslosen öffentlich zufrieden gibt, das alles - unter den Sozialisten kaschiert, nun offenkundig - ist dieser Generation entgegen allen Vermutungen nicht entgangen. Die Regierung um Premierminister Chirac beginnt dies zu begreifen und reagiert vorsichtig. Hochschulminister Devaquet und Erziehungsminister Monory sprechen von einem „Mißverständnis“ bezüglich des Gesetzestextes und zeigen sich im Voraus zu Änderungen bereit. Jacques Chirac, der in Mitterrand einen harten Gegner weiß, hatte sicher mit vielem gerechnet - nicht aber mit dem Protest auf der Straße. Francois Mitterrand indessen, der bereits ankündigte, sich jeden Kommentars hinsichtlich der Streiks vorerst zu enthalten, verfolgt die Entwicklungen „aufmerksam“. Die protestierenden Schüler und Studenten scheinen weder Mitterrand noch Chirac zu kennen, sie fordern in lauten Sprechchören den Rücktritt Devaquets, ein bis heute völlig unbekannter Minister. Hopi Lebel steht auf dem Podium und fordert dazu auf, auch an die zu denken, die bereits vor Studium und Abitur vom Bildungssystem verworfen werden. Wieder tosender Applaus. „Träume und Utopien haben wir weniger,“ sagt Hopi später. „Links und rechts will bei den französischen Parteien nichts mehr heißen, und unsere beruflichen Aussichten stehen sowieso schlecht. Wir protestieren pragmatisch.“ Ist das die neue Generation? „Dany Cohn–Bendit repräsentiert für uns heute nichts mehr, aber er ist ein guter Freund meines Vaters. Wenn er mich hier sähe, würde er sich sicher freuen!“ Hopi lacht. Salut Dany! Bonjour la revolte! Es fehlt nur noch das wirklich gute Wetter.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen