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Bestätigung der Betonköpfe

■ Peter Schneider über den Hintergrund der Verurteilung Jürgen Boocks

Das Revisionsurteil gegen Peter Jürgen Boock trägt alle Zeichen des Kompromisses, und dieser Kompromiß ist in mehrfacher Hinsicht unerträglich. Der gestern ergangene Spruch „lebenslänglich“ unterscheidet sich von dem ersten Urteil genau um zweimal lebenslänglich und 15 Jahre. Ob dieser Unterschied für Peter Jürgen Boock irgendeine praktische Bedeutung hat, bleibt abzuwarten. Nach der neuesten Rechtsauffassung ist die Verhängung einer mehrfachen lebenslänglichen Strafe unzulässig. Das Gericht war also schon aus formalen Gründen gezwungen, ein zumindest optisch milderes Urteil zu fällen. Festzuhalten bleibt, daß es die derzeit mögliche Höchststrafe verhängt hat. Diese Strafe bedeutet, daß nach 15jähriger Haft ein Rechtsanspruch auf Überprüfung der Haftdauer besteht: die Strafe kann, aber muß nicht nach 15 Jahren abgesetzt oder gemildert werden - eben diese Möglichkeit wollte das Terrorurteil der ersten Instanz versperren. Auch in der Frage der Schuldfähigkeit hat sich das Gericht, soweit es bisher erkennbar ist, auf einen eher optischen Kompromiß geeinigt: Es erkennt an, daß Peter Jürgen Boock ab Ende 1976 drogenabhängig war, rechnet ihm diese Abhängigkeit aber erst ab Ende Juli 1977 - also erst nach dem Mord an Jürgen Ponto - als Minderung der Schuldfähigkeit an. Ein Heroinsubstrat, das erst sieben Monate nach der Injektion wirkt, ist meines Wissens noch nicht erfunden. Ich bin kein Fachmann, aber ich habe das Argument mit der verminderten Schuldfähigkeit wegen Drogenabhängigkeit immer als einen zwar notwendigen, aber auch schrecklichen Umweg empfunden: gegenüber einer Justiz jedoch, die Zehntausende von Nazis unter Berufung auf den Befehlsnotstand freisprach schien mir dieser Umweg im Interesse einer historischen Gerechtigkeit gerechtfertigt. Der dritte, der eigentlich skandalöse Kompromiß läßt sich in der Sprache der Justiz nicht fassen. Er wird deutlich, wenn man sich daran erinnert, daß das psychiatrische Gutachten von Professor Rauch auch in das Revisionsverfahren eingeführt wurde. Professor Rauch hatte im „Dritten Reich“ an der psychiatrisch–neurologischen Klinik in Heidelberg Kindergehirne erforscht. Leute wie Professor Rauch suchten damals nach einem anatomischen Korrelat für Geisteskrankheiten im Gehirn von Patienten, die zum Zweck der Erforschung getötet wurden. Daß Professor Rauch seine damals erworbenen Fähigkeiten als Gutachter noch 40 Jahre später an einem Mann erproben durfte, der aus Entsetzen über Leute wie Professor Rauch zum Teroristen geworden war, ist der eigentliche und symptomatische Skandal. Das Verfahren gegen Professor Rauch wurde eingestellt wie zehntausende anderer Verfahren gegen Nazi–Verbrecher: Von 80.000 angestrengten Prozessen sind in 40 Jahren bundesdeutscher Justizgeschichte ganze 5.000 mit einem Urteil abgeschlossen worden, die meisten der Verurteilten kamen mit ein paar Jahren davon. Vor diesem Hintergrund ist das Urteil in Stammheim zu sehen. 1968 haben die Kinder jener Väter, die für das größte Verbrechen der jüngeren Geschichte verantwortlich sind, einen massenhaften Ausbruch versucht, einige sind dabei zu Terroristen geworden. Seit nun zehn Jahren werden sie unter Beihilfe jener Väter - in Boocks Fall des Gutachters Rauch - zu jenen Strafen verurteilt, die den Nazi–Vätern erspart worden sind. Aktuell bedeutet das Urteil eine Bestätigung der Betonköpfe auf beiden Seiten: da seht ihr es, es gibt keinen Weg zurück, können jetzt die Harten zu den Zweiflern bei der RAF sagen. Widerrufen gilt nicht, wir brauchen den Verräter, den wir „Kronzeugen“ nennen, antworten ihnen Zimmermann und seine Helfer. Bundespräsident von Weizsäcker hat seinerzeit seinen faschistisch belasteten Vater vor Gericht verteidigt. Es wäre an der Zeit, daß er sich nun zum Anwalt jener erklärt, die durch Leute wie seinen Vater zu Terroristen geworden sind.

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