: Vergessen können und wollen nur die Täter
■ Mutmaßlicher Kapo des KZ–Gusen vor dem Berliner Landgericht wegen vielfachen Mordes angeklagt / Polnische Zeugen belasten den 74jährigen Angeklagten schwer / „Gedächtnislücken“ und „Verschwörungstheorie“ des Angeklagten / Auseinandersetzung mit der NS–Zeit wird tunlichst vermieden
Von Plutonia Plarre
Berlin (taz) - Seit August steht in Berlin der 74jährige Rentner Otto Heidemann wegen vielfachen Mordes vor Gericht. Von 1940 bis 42, so die Anklage, habe sich Heidemann als „krimineller Häftling“ im KZ Mauthausen, Nebenlager Gusen, befunden. Er sei sogenannter Funktionshäftling gewesen, Stubenältester des Blocks, später Kapo und schließlich Oberkapo. Seine Aufgabe habe darin bestanden, die Häftlinge im Nähe des Lagers Gusen gelegenen Steinbruch Kastenhofen zu überwachen und zur Arbeit anzutreiben. Getragen vom nationalsozialistischen Denken „einer minderwertigen, nicht lebensberechtigten polnischen Rasse“ habe Heidemann als „Herrscher über Leben und Tod“ mindestens zwanzig Mithäftlinge sadistisch gequält und grausam getötet, indem er sie den Abgrund hinunterstürzte, mit Spaten, Stock oder bloßer Faust erschlug, durch die Postenkette trieb, oder mit kaltem Wasser zu Tode duschte. Nach dem jüngst ergangenen Beschluß der Berliner Justizbehörden, die Ermittlungsverfahren gegen ehemalige Mitglieder des Volksgerichtshofs einzustellen, ist dies wohl der letzte NS–Prozeß in Berlin. Sechsunddreißig Jahre hatte Heidemann, der 1949 aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrte, unbehelligt von der Vergangenheit in Berlin gelebt. Dabei war sein Name erstmals im Ansbacher Prozeß gegen den Lagerkommandanten des KZ Gusen, Karl Chmilewski (er wurde 1961 wegen 282fachen Mordes zu Lebenslang verurteilt, und nach 17 Jahren von der Haft verschont), aufgetaucht. Aufgrund der Aussage des polnischen KZ Insassen Nogay leitete die Staatsanwaltschaft Celle 1962 ein Ermittlungsverfahren gegen Heidemann ein, daß ein Jahr später bereits wieder eingestellt wurde: Weil Nogay nicht mit eigenen Augen gesehen habe, wie Heidemann Menschen erschlug, sondern dies nur vom Hörensagen wisse, sei ein „Tatverdacht zu verneinen“. Um andere Zeugen bemühte sich die Staatsanwaltschaft gar nicht erst. Der personifizierte Tod Am 18. Juli 1977, vierzehn Jahre später also, wurden die Akten Heidemanns schließlich von der Zentralstelle Köln, - zuständig für Verfahren gegen Verbrechen in KZs - nach Berlin überstellt. 1983 setzte der Oberstaatsanwalt Priestoph die Ermittlungen wieder in Gang: bis zur Anklageerhebung und Inhaftierung Otto Heidemanns im Oktober 85 verstrichen weitere kostbare Jahre: Staatsanwalt Priestoph zufolge gestaltete sich das Rechtshilfeersuchen bei der polnischen Hauptkommission ebenso langwierig, wie Anfragen bei der Suchstelle des Deutschen Roten Kreuzes in Arolsen: Auf die Antwort über die KZ Aufenthalte Heidemanns habe man eineinhalb Jahre gewartet. Zweimal wöchentlich wird der hagere, 1,91 große Otto Heidemann nun aus der Haft vor Gericht geführt. Der Mann, der laut Zeugenbekundungen im Lager Gusen Namen wie „der Lange“, „die Bohnenstange“ oder „der große Tod“ trug, behauptet, 1940 als „Arbeitsscheuer“ nach Gusen gebracht worden zu sein. Er will niemals Kapo geschweige denn Oberkapo, sondern lediglich Stuben– und Blockältester, gewesen sein. Er gibt zu, einen Häftling schon mal getreten oder geschlagen zu haben - „ich mußte doch für Ordnung sorgen, ich wollte doch auch leben“, aber, einen Mord begangen habe er nie. Auch, daß er bis Ende 1942 in Gusen war, will Heidemann nicht wahrhaben: sei er doch bereits 1941 ins Bewährungsbattallion eingezogen worden. Ein Mitarbeiter des Internationalen Suchdienstes von Arolsen belegte, daß Heidemann im Mai 1939 vom KZ Dachau ins KZ Mauthausen überstellt wurde, und im Mai 1940 nach Gusen kam. Nicht mehr feststellbar ist dem Zeugen zufolge, wann Heidemann Gusen verließ, weil seine Häftlingskarte nicht mehr existiere: Registriert sei nur, daß er am 10. Dezember 1942 im KZ Sachsenhausen ankam. Einem Mitarbeiter des Wehrmachtauskunftamtes zufolge ist Heidemann in der Einberufungsliste vom April 1943 aufgeführt, und im November 1944 als fahnenflüchtig gemeldet worden. Heidemann erwähnte seine KZ Aufenthalte nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft mit keinem Wort, und stellte auch keinen diesbezüglichen Antrag auf Entschädigung. Verteidiger–Strategie: Alles Verwechslung Das Strafregister des gelernten Malers, der 1933 und 37 wegen Glühbirnenklaus und Beteiligung an Glückspielen zu kurzen Freiheitsstrafen verurteilt worden war, weist für die Zeit von 1950 bis 77 zahlreiche Eintragungen auf: Wegen Trickdiebstahls, Unzucht mit Kindern und Betruges saß Heidemann mit Unterbrechungen mehr als fünf Jahre im Knast. Heidemanns Verteidiger setzen auf die Strategie der „Verwechslung“: In Gusen habe es viele blutrünstige Kapos, mit ähnlichen Namen wie Bruno Weidemann oder Bruno Ott oder Otto Schneidereit gegeben. Auch groß und am ganzen Körper tätowiert, - wie Heidemann - sei manch anderer gewesen. Über sechzig, von der Staatsanwaltschaft benannte Zeugen sollen in diesem Indizienprozeß nun nach fünfundvierzig Jahren den Gegenbeweis antreten. Um den hochbetagten Zeugen, die gesundheitlich nicht mehr dazu in der Lage sind, die Strapaze der Fahrt zu ersparen, reiste das Gericht dreimal zur kommissarischen Vernehmung nach Polen. Die übrigen Zeugen kamen mit Begleitern der polnischen Hauptkommission nach Berlin. Nüchtern und sachlich die einen, von Weinkrämpfen geschüttelt die anderen, erkannte eine Vielzahl der polnischen Zeugen Otto Heidemann nicht nur als Kapo des Steinbruchs wieder, sondern hatten ihn auch Töten sehen: „Das sind Sachen, die einfach im Gedächtnis haften bleiben. Namen, die es verdient haben, behalten zu werden, haben wir behalten. Wir haben geglaubt, daß wir später noch etwas dazu zu sagen haben“. Der 70jährige Pole Peron bebachtete Heidemann viermal beim Morden. So mußte er mit ansehen, wie Heidemann einen Polen im Steinbruch fürchterlich zusammentrat. „Als er keine Kraft mehr hatte aufzustehen, legte ihm Heidemann einen Stock auf den Hals, stellte sich auf beide Seiten und fing an zu springen. Wir haben unseren Felsen weitergerollt, wir durften doch nichts machen, der Hilfskapo hat uns angetrieben. Der Mann ist nicht mehr aufgestanden, Blut kam ihm aus Nase und Mund“. Todbadeaktion Peron beoachtete auch, wie Heidemann einen Häftling den Abgrund hinterwarf, ihn wieder hochholen ließ, weil er sich noch rührte, und ein zweites Mal hinunterwarf. Auch bei Todbadeaktionen (Invalide Häftlinge wurden in Gruppen von 40 bis 200 Personen unter kalte Duschen mit verstopften Abflüssen getrieben. Sie ertranken oder starben wenig später an Infektionen durch Unterkühlung) wollte Peron Heidemann zweimal gesehen haben: „Er hatte einen Stock, und schubste die, die aus dem Becken herauswollten zurück“. Der „Erfinder“ dieser 1941 begonnen Todbadeaktion war der Schutzhaftlager–Adjutant Heinz Jentzsch, genannt „der Bademeister“. Der heute 69jährige, der 1968 in Hagen zu Lebenslang verurteilt worden war und seit 1982 Haftverschonung genießt, wurde im Prozeß gegen Heidemann als Zeuge gehört. Vor Gericht stellte er sich als den vom Schicksal geschlagenen, völlig zu Unrecht Verurteilten dar: „Ich wäre der glücklichste Mensch, wenn ich nur eine blasse Vorstellung von den Todbadeaktionen hätte“. Später, vor der Saaltür zog er mit einem anderen deutschen Zeugen über den „Polenfilz“ her. Keiner der wenigen deutschen Zeugen, die im Prozeß gehört wurden, wollte Heidemann genauer gekannt, geschweige denn im Zusammenhang mit den angeklagten Greueltaten gesehen haben. So erklärte ein 73jähriger Zeuge aus Bayern, der wegen Hausiererei im KZ Gusen saß, er habe den Kapo Heidemann nur „schlagen und treten“ gesehen; daß Häftlinge dabei auch zu Tode kamen, wollte er nie gehört haben. Nach seiner Vernehmung bekannte derselbe Zeuge in der Gerichtskantine jedoch ganz offen, „sehr wohl“ zu wissen, daß Heidemann Menschen umbrachte. „Ich habe es drinnen nicht sagen wollen, der ist doch so alt wie ich. Die Polen werden es schon noch sagen“. Zeugen müssen sich kurz fassen Die, die es sagen, werden von der Verteidigung inquisitorisch befragt: Ob sie sich bei den Gusen– Treffen ehemaliger KZ Häftlinge über den Prozeß und Heidemann unterhalten hätten und warum sie Heidemann bei früheren Vernehmungen zu Gusen nicht schon längst erwähnt haben. Heidemann besteht auf der Vereidigung jedes Zeugen, der ihn belastet. Heidemann unterstellt den Zeugen ganz offen „Lug und Trug“, sie suchten „Schlechtes mit Schlechtem“ zu vergelten. Gegen die „Verschwörung eines Landes kann ich mich doch nicht wehren“. Obwohl das letzte NS–Verfahren gegen den SS–Scharführer Hans Quambusch und den SS–Unterscharführer Johann Bäcker - sie wurden 1973 wegen der Erschießung von Juden im besetzten Polen zu Lebenslang verurteilt - schon dreizehn Jahre zurückliegt, ist das Interesse der Berliner Öffentlickeit an diesem Prozeß denkbar gering: Abgesehen von wenigen Ausnahmen blieben die Presse– und Zuschauerbänke nahezu immer leer. Das Gericht bemühte sich mit einer strengen Verfahrensführung tunlichst darum, die jüngste deutsche Geschichte nicht umfassender aufzurollen, als es für die Abklärung der Anklage unbedingt notwendig schien. So wurden Zeugen, die zum ausführlicheren Bericht anhoben schnell unterbrochen: „Erzählen Sie uns doch bitte das Wichtigste, was sie zu unserem Thema beitragen können“. Je näher das Ende des Prozeßes rückte - die Urteilsverkündung ist für den 22. Dezember anberaumt - desto kürzer wurden die einzelnen Vernehmungen. An Zeugen, die Heidemann zwar eindeutig wiedererkannten, ihn aber noch 1943 und später im Lager gesehen zu haben glaubten, hatten die Richter bald keine Fragen mehr.
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