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Berlin: rechtliches Niemandsland

■ Bürgerinitiative gegen Schießplatz Gatow im britischen Sektor kann keine Rechtsmittel einlegen / Kläger vor deutschen und britischen Gerichten abgeblitzt / Menschenrechtsklage in Straßburg eingereicht

Aus Straßburg Th. Scheuer

Ob die Insel Berlin–West im Zeitalter des „Rechtsraumes Europa“ in punkto Menschenrechte weiterhin ein rechtsfreier Raum bleibt, damit hat sich die Menschenrechtskommission des Europarates in Straßburg zu befassen: Dort reichte gestern - just am 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte - der Rechtsanwalt Reiner Geulen zusammen mit seinem britischen Kollegen Owen Davis und Mitgliedern der BI „Schießplatz Gatow Nein“ eine Beschwerde wegen Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention ein. Hintergrund ist der von der britischen Militärregierung in Gatow im britischen Sektor von Berlin–West direkt zwischen zwei Wohngebieten errichtete Groß– Schießplatz. Für den Schießplatz haben Gutachten eine Lärmbelästigung prognostiziert, die den nach deutschem Recht zulässigen Wert um das sieben– bis zehnfache übersteigt. Im Oktober 1984 beauftragte das Abgeordnetenhaus den Berliner Senat einstimmig, alle Möglichkeiten zu nutzen, die Inbetriebnahme des Schießplatzes zu verhindern. Das Einschlagen des Rechtsweges durch einige An auch vor britischen Gerichten erwies sich der Rechtsweg als Sackgasse: Der britische Stadtkommendant entzog sich einem Verfahren, in dem er sich flott zum „Organ der Regierung Deutschlands“ (gemeint ist das Deutsche Reich in den Grenzen von 1937!) erklärte. Der britische Außenminister Howe - der sich als derzeitiger EG–Ratspräsident gerade gestern im Straßburger Europaparlament einmal mehr als Motor der europäischen Einigung in Pose setzte - verhalf dem Stadtkommandanten seinerzeit durch eine Bestätigung dieser kuriosen Selbsternennung in Form eines für alle britischen Gerichte verbindlichen Zertifikates zur Immunität als fremdes Staatsoberhaupt. Damit war den betroffenen Bürgern - ein absolutes Unikum der jüngsten Rechtsgeschichte West–Europas - jeder Rechtsweg abgeschnitten. In Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskon vention jedoch wird jedem Bürger das Recht auf Anhörung durch einen „unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gerichtshof“ garantiert. Ob das britische Königreich dieses Recht, welches es im letzten Jahrhundert selbst den Völkern seiner Kolonieen zugestanden hatte, den West–Berlinern weiterhin vorenthalten kann, ob die Stadt also - wie Rechtsanwalt Owen Davis gestern meinte - „rechtliches Niemandsland“ bleibt, darüber haben nun die Organe der Europäischen Menschenrechtskonvention - zunächst die Kommission und gegebenenfalls der Gerichtshof - zu befinden. Eine Entscheidung ist kaum vor vier Jahren zu erwarten.

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