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UdSSR: Privatarbeit zugelassen - und besser kontrolliert

■ Das Gesetz zur Regelung der „individuellen Arbeit“ soll die Schwarzarbeit eindämmen / Bislang ist der Dienstleistungssektor in der „Parallelwirtschaft“ fast so groß wie im öffentlich verwalteten Bereich / Private Vollerwerbstätigkeit nach wie vor unmöglich / Gesetz tritt am 1. Mai in Kraft / Öffentliche Schelte für Staatsbetriebe

Von Berndt Biewendt

Der vielzitierte frische Wind der Gorbatschow–Ära soll jetzt auch die gesetzlichen Grundlagen der Arbeit in der Sowjetunion mit einbeziehen. Mit dem Gesetz zur Regelung „individueller Arbeit“ hat die sowjetische Regierung erstmals Privatarbeit als „zweckdienlich“ für die sozialistische Wirtschaft anerkannt. Das im November vom Obersten Sowjet verabschiedete Gesetz nennt insgesamt 29 Tätigkeiten, die künftig von privater Hand ausgeführt werden dürfen. Die Liste der freigegebenen Aktivitäten erstreckt sich von Handwerks– und Heimarbeiten für Kleidung und Möbel über Wohnungs– und Autoreparaturen bis zu Privatunterricht in Musik, Sport und Stenographie. Damit versucht die sowjetische Regierung einem Umstand Rechnung zu tragen, der seit langem für Unzufriedenheit in der Bevölkerung sorgte: der Ineffiziens des staatlichen Dienstleistungssektors. Diese Maßnahme kommt nicht überraschend. Seit dem Machtantritt Michail Gorbatschows werden wirtschaftliche Mißstände in einer bisher nicht gekannten Offenheit aufgedeckt. Ende Februar dieses Jahres ging Gorbatschow in seiner Rede auf dem 27. Parteitag der KPDSU hart mit der sowjetischen Realität ins Gericht und kündigte eine „radikale Reform“ der Wirtschaft und Gesellschaft an. In den folgenden Monaten nahm eine von der Partei initierte Medienkampagne die Fehlentwicklungen im Konsumgüter– und Dienstleistungsbereich unter Beschuß. Die Zeitungen brachten regelmäßig Reportagen, in denen der Schlendrian in den Betrieben und der verschwenderische Umgang mit Rohstoffen und Energie schonungslos kritisiert wurden. Das sowjetische Fernsehen ließ Autofahrer zu Wort kommmen, die wochen– und monatelang auf die Reparatur ihres Wagens warten mußten. Die öffentliche Schelte machte deutlich, daß der staatliche Dienstleistungssektor den Bedarf auch nicht annähernd befriedigen konnte. Unter diesen Bedingungen konnte der offiziell als „Parallelwirtschaft“ bezeichnete Schwarzmarkt ein florierendes Schattendasein führen. Die Regierungszeitung Iswestija bezifferte die Zahl der schwarz arbeitenden Sowjetbürger auf 17 bis 20 Millionen und schätzte die von ihnen erbrachten Dienstleistungen auf einen Wert von fünf bis sechs Milliarden Rubel - ein Betrag, der nur knapp unterhalb des staatlichen Dienstleistungsvolumens liegt. Um die Gefahr sozialer Spannungen abzubauen, wird die Schwarzarbeit durch das neue Gesetz über „individuelle Arbeit“ in Teilbereichen legalisiert. Damit verschafft sich die sowjetische Regierung gleichzeitig bessere Möglichkeiten zur Kontrolle der gesamten „Parallelwirtschaft“. Wer künftig einer privaten Tätigkeit nachgehen will, muß zunächst bei den lokalen Verwaltungsbehörden eine Genehmigung beantragen. Die Lizenz wird unter der Voraussetzung erteilt, daß die betreffende Person entweder einen festen Arbeitsplatz im staatlichen bzw. genossenschaftlichen Bereich nachweisen kann oder aber Hausfrau, Student, Rentner oder Invalider ist. Das heißt, „individuelle Arbeit“ wird auf Nebenerwerbstätigkeit eingeschränkt und kann nur nah Feierabend oder in der Freizeit geleistet werden. Lohnarbeit oder die Gründung eines regelrechten Privatunternehmens durch die Einstellung von Arbeitskräften bleiben auch weiterhin ausdrücklich verboten, so daß ein Rückfall in neue Formen kapitalistischer Privatwirtschaft nicht zu erwarten ist. Da zudem das Einkommen aus dem Nebenerwerb versteuert werden muß, sind der quantitativen Ausdehnung des legalen Privatsektors von vornherein enge Grenzen gesetzt. Allerdings bleibt es den Lokalbehörden vorbehalten, bei Bedarf die gesetzlich erlaubten 29 Tätigkeiten auf weitere Bereiche, wie beispielsweise den Betrieb eines kleinen Lokals, auszudehnen. Im Vergleich zu ähnlichen Experimenten in Ungarn oder anderen sozialistischen Ländern ist der Spielraum für Privatinitiative dennoch eng begrenzt. Einkünfte werden kontrolliert Der Vorsitzende des Staatskomitees für Arbeit und Soziales, Iwan Gladki, geht davon aus, daß im nächsten Jahr zwei bis drei Millionen Privatarbeiter eine Lizenz erhalten werden. Legt man dagegen die Zahlen der Iswestija zugrunde, dann wird sich nur ein Bruchteil der geschätzten 17 bis 20 Millionen Schwarzarbeiter als legale Privatarbeiter registrieren lassen. Der Grund dürfte in den außerordentlich hohen Verdienstmöglichkeiten in der „Parallelwirtschaft“ liegen, die um ein Vielfaches über den durchschnittlichen Monatelöhnen in staatlichen oder genossenschaftlichen Betrieben liegen können. Als flankierende Maßnahme zur Eindämmung der Schwarzarbeit hat die sowjetische Regierung daher ein weiteres Gesetz über „nicht erarbeitete Einkommen“ erlassen. Nach diesem Gesetz müssen Käufer, die sich Waren im Wert von mehr als 10.000 Rubel anschaffen wollen, zunächst einen Nachweis erbringen, daß sie dieses Geld legal erworben haben. Ob davon eine entscheidende Abschreckungswirkung ausgeht, bleibt abzuwarten. Mit einiger Sicherheit muß aber damit gerechnet werden, daß die bislang stillschweigend geduldete Schwarzarbeit künftig unter Strafe gestellt wird. Das Gesetz zur Regelung „individueller Arbeit“ tritt übrigens an einem für die Arbeiterklasse höchst bedeutsamen und beziehungsreichen Datum in Kraft: dem 1. Mai 1987.

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