Italiens Studentenbewegung - ein Phantasma?

■ Die Parallelen zum französischen Studentenprotest sind nur oberflächlich / In Italien geht es nicht gegen Elitebildung und Ungleichheit / Schüler, Studenten und Eltern demonstrieren hier gemeinsam für „mehr Leistung“, mehr Lehrer und praller ausgestattete Chemieräume / Schülerprotest von Zukunftsangst geprägt

Aus Rom Werner Raith

„Die Frage“, sinniert Gerardo aus Torvaianica auf dem Podium in der Aula der Literaturfakultät in Rom, „ist schlicht die: haben wir nun eine Studentenbewegung oder haben wir keine?“ Die Frage ist weniger paradox, als sie angesichts der Demonstrationen mit mehreren zehntausend Teilnehmern und der erfolgreichen Blockade einer feierlichen Eröffnung des akademischen Jahres durch Erziehungsministerin Flacucci in Palermo Mitte Dezember erscheint. Tatsächlich haben die italienischen Studenten derzeit eher das Gefühl, dem eindrucksvollen französischen Vorbild hinterherzuhecheln. Ganz unvorhergesehen ist das Selbstbewußtsein geschwunden, das die „ragazzi dell 85“ (85er–Jugend) noch im vergangenen Frühjahr und Sommer beflügelt hatte, als sie zu Hunderttausenden durch Italiens Städte zogen und nach einer besseren Schule riefen - Italien schien, wieder einmal, Vorreiter eines neuen Jugendprotestes zu werden. Doch so schnell, wie die Bewegung aufgetaucht war, so schnell verflüchtigte sie sich wieder - erst nach dem Pariser Dezemberanfang gibt es wieder größere Versammlungen in den Schulen und verspätet auch in den Universitäten. So ganz ist nicht auszumachen, was den Kollaps bewirkt hat - denn „weder haben Politiker den Parolen vom Vorjahr widersprochen, noch sind die Gründe für ihre Forderungen geschwunden“, wie Donatella aus Rieti feststellt. Im Gegenteil: Ermutigt werden sie seit ihrem Auftauchen vor zwei Jahren von allen Seiten; von den Lehrern, Schuldirektoren, Bil dungspolitikern, der Kirche; und abzustellen ist noch immer die Lähmung der Gymnasialreform, die Höhe der neuen Schul–, Studien– und Prüfungsgebühren. Zu bekämpfen sind die ausfallenden Schulstunden (oft bis zu 20 Prozent), die fehlenden Physik– und Turnräume, die schlechte Ausbildung vieler Lehrer. Festgemacht hat sich der Pro test eigentlich nur an einer einzigen Person. Zum Ungeist erklärt wurde Erziehungsministerin Franca Falcucci, eine mächtig dreinschreitende, vom klerikalen Teil der Christdemokraten gestützte ehemalige Gymnasiallehrerin, die den Italienern erstmals zwei Religionsstunden vorschreibt und für Nicht–Gläubige keine Alternative bereitstellt und die den Südländern Traditionslernstoffe wie Latein und alte Geschichte entzogen hat. „Leistung soll lohnen“ Die Fixierung auf die ungeliebte Falcucci - an der die Regie rung verbissen festhält, weil sonst der Koalitionsbruch droht - hat bisher die Diskussion von Inhalten weitgehend blockiert. So herrschten bei den Großdemonstrationen Allgemeinslogans wie „Wir wollen lernen“ oder „Leistung soll lohnen“ vor. Kein Wunder, daß sich die meisten Eltern und Lehrer „zufrieden“ mit den demonstrierenden Sprößlingen äußerten. Zur Verminderung der Teilnehmerzahlen bei den Demonstrationen vor zwei Wochen trägt auch bei, daß sich der Großteil derer von der Bewegung abwendet, die die Demos so machtvoll aussehen ließen - die Arbeitslosen, vor allem unter der Jugend, die sich dem Protest 1985 angeschlossen hatten und die nach einigen Erfahrungen mit den leistungsbewußten Gymnasiasten und Studenten wenig Gemeinsames sehen: „Sicherlich“, vermutete Carlo in einem der wenigen selbstkritischen Statements bei einer Schülerversammlung des Enrico–Fermi– Gymnasiums, „ist auch unser Protest von einer starken Zukunftsangst geprägt - eine Angst, die wir dadurch zu bändigen suchen, daß wir eben besser sein wollen als andere und dadurch eher einen Arbeitsplatz bekommen. Aber im Grund zeigen wir wenig Solidarität mit anderen Leuten in der gleichen Situation.“ Keine Demokratie ohne große Turnhallen Während der Diskussion in der literaturwissenschaftlichen Fakultät in Rom wird das besonders deutlich: Immer wieder halten sich die Teilnehmer mit der Aufzählung fehlender Räume, Lehrer bzw. Professoren, Materialien auf, immer wieder ersetzt ein Angriff auf die Falcucci die fehlenden Alternativen. Einige wohl von Gewerkschaftern im Publikum eingebrachte Forderungen nach ersatzloser Streichung der Schul– und Prüfungsgebühren, nach Erleichterung des Hochschulzugangs, nach der Ausweitung von Demokratie in den Schulen werden mit wohlwollendem Kopfnicken zur Kenntnis genommen - aber offenbar kann sich kaum jemand vorstellen, wie man Demokratie ohne prall ausgestattete Chemieräume und große Turnhallen praktizieren kann. Hinderlich wirken sich freilich auch die fast schon obszönen Versuche der Parteien aus, die Bewegung nach bewährtem Muster für sich zu vereinnahmen. Kaum eine Versammlung, wo nicht plötzlich einer von der Kommunistischen Jugendorganisation FCGI auftaucht und seine Partei als Hort der Jugendinteressen anpreist - sofort niedergebrüllt von den Kollegen der sozialistischen PSI, die gerade auf die Flucht der jungen Leute aus dem PCI hinweisen (ohne daß die allerdings zum PSI laufen würden). Das Gelöbnis „Nie wieder mit den Parteien“, das die „ragazzi dell 85“ vor eineinhalb Jahren feierlich abgelegt hatten, ist schon an vielen Stellen brüchig geworden - zu groß ist oft die Versuchung, Parteiorganisationen bei Demos mitmachen zu lassen, weil das die Teilnehmerzahlen anschwellen läßt. Frankreich blendet Derzeit fallen französische Kollegen wie Himmelsgeschenke in die Diskussionen ein: ihnen hören unterschiedslos alle zu, und jeder, der sonst eher geschmähten Welschen wird frenetisch bejubelt, so als hätte er eben Barrikadenkämpfe hinter sich und den französischen Wissenschaftsminister persönlich den Montmartre hinuntergejagt. Niemandem fällt dann die Verschiedenartigkeit der Bildungssysteme auf (das französische ganz vom Rationalismus, das italienische vom antikisierenden Humanismus geprägt), niemand stößt sich an den unterschiedlichen politischen Voraussetzungen (in Frankreich die akzentuierte Rechtsregierung, in Italien die gemäßigte linke Mitte); niemand macht sich die Differenzen in den Forderungen klar (in Frankreich der Kampf gegen den bourgeoisen Elitarismus, in Italien das Verlangen nach „mehr Leistung“) Gewalt und Militanz sind, trotz allerlei Prügeleien mit der Polizei, überhaupt kein Thema. Es ist der Erfolg der französischen Kollegen, der blendet - und den will man auch (es gibt einen Aufschrei, als bekannt wird, daß nun auch die spanischen Studenten auf der Straße sind - „und wir diskutieren hier nur“, entsetzt sich Gerardo). Zumindest der Kopf der Falcucci soll rollen - doch was dann wird, weiß keiner. Konsequenterweise geht denn auch die Frage eines Assistenten, was man denn „von der braven Rückkehr der französischen Freunde in die Schulen halten soll“, unter im Wutgeheul und dem skandierten „Achtundsechziger raus“.