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Kohl–Konserve war doch keine Sabotage

■ Nach gründlichen hausinternen Recherchen kann der NDR Sabotage–Spekulationen widerlegen / Chronologie der Ereignisse bringt Licht ins Halbdunkel eines Studios /Bundesregierung akzeptierte die Entschuldigung

Von Manfred Kriener

Berlin (taz) - Nach fieberhaften Recherchen innerhalb des Norddeutschen Rundfunks steht die Ursache für die Sendung der falschen Neujahransprache des Bundeskanzlers fest: „Eine Verkettung unglücklicher Umstände.“ Jede Form von Sabotage oder, wie es NDR–Sendeleiter Dr. Meier formulierte, jede „bewußte Steuerung“ wird ausgeschlossen. Anrufer wurden vorgewarnt: „Hier ist immer noch die Hölle los.“ Dennoch gelang es den NDR–Verantwortlichen, die Geschehnisse in der Silvesternacht zu rekonstruieren. Die Geschichte des irrtümlich gesendeten falschen Kohls begann bereits am 23. Dezember 1986. Die Kölner Monitor–Redaktion hatte für ihre Sendung am 30. Dezember die alte Kohl–Ansprache vom Vorjahr angefordert. Sie sollte für den Beitrag „Gewinner und Verlierer der Wende“ ver–wendet werden. Deshalb wurde am 23. die Neujahrsansprache des Vorjahrs aus dem Handarchiv geholt und in der Sendezentrale zu den Kollegen und Kolleginnen nach Köln überspielt. Das Material aus dem Handarchiv ist aber, wie Sendeleiter Dr. Meier weiß, „oft nicht so sorgsam beschriftet“. Das trifft offenbar auch für die Kohl–Konserve zu: Auf der Kassette stand zwar ganz groß „Neujahransprache des Bundeskanzlers“, aber nur ganz klein und zudem in Blau geschrieben „27.12.1985“. Im Halbdunkel des Studios sei dieses Blau kaum noch lesbar, versichert der Sendeleiter. Nach seinen Recherchen wurde das alte Kohl–Band am 23. überspielt und blieb dann bis zum 29. im Studio liegen, weil zwischen dem 23. und 29. für die meisten NDR–Beschäftigten freie Tage lagen und Aufräumarbeiten fürs Archiv deshalb nicht geleistet werden konnten. Am 29. Dezember wurde dann aus Bonn die aktuelle Kohl–Neujahrsbotschaft nach Hamburg überspielt. Diese Rede sei aber nicht auf eine eigene Kassette, sondern auf ein Sammelband zusammen mit anderen Beiträgen aufgenommen worden. Fortsetzung auf Seite 2 Erstaunlicherweise wurde noch am 29. Dezember die Gefahr einer Verwechslung vorausgesehen. Daraufhin sei in Bonn angerufen worden, um sich zu erkundigen, welches denn nun der richtige Kohl sei. Das sei zwar geklärt worden, doch dann passierte ein zusätzlicher Lapsus. Der dem Sammelband mit der aktuellen Kohl–Rede zugeordnete sogenannte Band– Zettel wurde mißverständlich beschriftet. Im Zuge des mehrmaligen Schichtwechsels vom 29. bis zu Silvester war dann für die fragliche Sendung am 31. ein Team zuständig, das von den zwei Kohl– Reden nichts wußte und irrtümlich zur nicht aufgeräumten alten Kassette griff. Soweit die NDR–offizielle Version, die uns auch von kritischen Kollegen des Senders bestätigt wurde. „Wer die Zustände in der Sendezentrale kennt, der weiß, was da alles passieren kann“, klärte uns ein NDR–Mitarbeiter auf, der sich „wie fast alle hier bei uns“ über die Kohl–Panne köstlich amüsiert. Zurück zur Chronologie. Schon 30 Sekunden nach Einspielung des falschen Kohl–Bandes klingelte in der Sendezentrale des NDR, wie gestern aus zuverlässiger Quelle zu erfahren war, das Telefon. Der Anrufer machte auf das Versehen aufmerksam, erhielt aber kein Gehör. „An Silvester ist das ja auch kein Wunder, die glaubten, der ist besoffen.“ Erst nach weiteren Anrufen ging dem Sendeteam ein Licht auf. Konfrontiert mit einer „Alptraum–Situation, die ja so nicht vorhersehbar war“ (H.Blankenburg, Programmdirektion), folgte dann zunächst eine Schock–Phase, nach der als erste Maßnahme der zufällig anwesende Programmdirektor Seelmann–Eggebert verständigt und das Versehen „gegengecheckt“ wurde. In der allgemeinen Hilflosigkeit wurde der falsche Kohl aber doch zu Ende gesendet und auf die Einblendung eines Stör–Dias verzichtet. Nachdem sich auch Seelmann– Eggebert von der Verwechslung überzeugt hatte, wurde ein Entschuldigungstext formuliert, für dessen Einblendung aber noch ein geeigneter Zeitpunkt abgewartet werden mußte. Im „Ersten“ lief nämlich das ARD–Wunschkonzert, in das eine Reihe von Jokes eingebaut waren. Die Entschuldigung mußte „thematisch passen“ (Blankenburg). Erst gegen 21.25 Uhr war die Sendung dann seriös genug, um die Entschuldigung einzublenden. Die Bundesregierung hat die Entschuldigung des NDR inzwischen akzeptiert. Regierungssprecher Ost kann zufrieden sein: Die am Neujahrstag nachgeholte aktuelle Ansprache des Kanzlers hatte eine hervorragende Einschaltquote von 7,3 Millionen gegenüber nur 6,8 Millionen am Vortag (siehe auch Kasten auf dieser Seite).

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