: Glühwein aus dem Mikrowellengrill
■ Schnee und Frost liegen wie eine Decke über Kreuzberg / Alles ist ein bißchen gedämpfter / Eisbrecher hält die Grenze offen
Der Kreuzberger Mariannenplatz ist in weiße, eisige Stille gehüllt. Doch über den Bäumen herrscht Unruhe. Ein großer Schwarm dunkler Vögel zieht rätselhafte, ineinander verschlungene Kreise. Wollen sie sich in der grimmigen Kälte in Bewegung halten? Oder suchen sie nach Futter? Dann, wie auf ein geheimes Signal hin, wenden sie sich alle in eine Richtung und verschwinden nach Norden in den anderen Teil der Stadt. Eine orangefarbene Sonne schwimmt im trüben Himmel wie in Milchsuppe. Mein Atem dampft. Die Feuchtigkeit setzt sich in meine Augenbrauen und gefriert sofort. Auf der anderen Seite der Mauer dampft der Schornstein des Ost–Berliner Heizkraftwerks Mitte in wuchtigen, weißen Schwaden. Davor mischen sich dünne Rauchfahnen in allen Grautönen. Der Todesstreifen hinter der Mauer ist tief verschneit. Zwei Vopos stapfen einen freigeschaufelten Weg entlang, sie tragen lange, weiße Kittel über ihren Uniformen und darüber ihre Maschinenpistolen. Ohne daß sie es wissen, gehe ich neben ihnen her - zwischen uns die Mauer. In der Köpenicker Straße gehen vermummte Menschen an mir vorbei. Kopftücher, Pelzmützen, Ohrenschützer, Stirnbänder. Man sieht nur die Augen und die Nasenspitzen. Jeder hat sich in sich selbst verkrochen, den Blick gesenkt, den Oberkörper vorgebeugt, mit hochgezogenen Schultern, um den empfindlichen Hals gegen die Kälte zu schützen.Die Spree an der Oberbaumbrücke ist die Grenze zwischen West– und Ost–Berlin. Die Boote der östlichen Grenztruppen fahren ständig durch das Wasser, um es am Zufrieren zu hindern, um die Grenze „offen“ zu halten. Die Eisbrocken schwimmen wie ein großes Mosaik genauso nebeneinander wie sie abgebrochen sind. Als ein Schiff vorbeizieht, klirren sie leise. Vor der Spedition Rießer treffen sich die Briefträger im „Do–X“–Imbiß. Die Post für die Spedition lassen sie gleich bei der Wirtin. Es gibt Glühwein, der im Mikrowellengrill heißgemacht wird. Die Briefträger wärmen sich die Hände an den heißen Gläsern. „Ich hab gelesen, daß die Vögel, die gefüttert werden, nach dem Winter kein Gramm mehr wiegen als die, die sich ihr Futter selbst suchen“, erzählt die Wirtin. „Die sind nämlich darauf eingerichtet, sich immer nur hier und da mal ein Korn zu suchen. Da haben die ihre Stellen, wo sie das immer finden.“ In der Skalitzer Straße schaufeln Autobesitzer ihre Wagen vom Schnee der letzten Nacht frei. Andere hantieren mit Feuerzeugen, Enteisern, Kratzern. Ein VW–Bus–Fahrer gibt einem Mercedes–Besitzer mit langen Kabeln Starthilfe aus seiner Batterie. Die Diesel–Fahrzeuge sind bei dieser Temperatur kaum noch in Gang zu bringen. Der Schnee knirscht unter meinen Schritten. „Der verdichtet sich unter dem Druck sofort zu Eis, darum knirscht es“, erfahre ich später vom diensthabenden Meteorologen der Freien Universität. Aber ganz sicher ist er sich nicht, außerdem hat er jetzt keine Zeit, sich mit solchen Fragen zu befassen. Die großen Fensterscheiben des „Rebetiko“ am Schlesischen Tor sind von innen mit Zeitungspapier verhängt. Papier hält die Wärme besser als Glas. Auch die Verkäuferin im Kiosk an der nächsten Ecke benutzt ihre Zeitschriften–Ständer heute als Bollwerk gegen die Kälte. Sie ist dahinter kaum noch zu sehen und hat ihr Fensterchen nur einen schmalen Spalt geöffnet, durch den Ware und Geld hochkant ausgetauscht werden. In der Kottbusser Straße liegen noch die weihnachtlichen Tannenbäume am Straßenrand. Zweige und Nadeln zersplittern beim Anfassen sofort in der Hand. Der Landwehrkanal ist nur an den Rändern zu Eis erstarrt. Die Ausflugsdampfer „Rheinpfalz“, „Kehrwieder“ und „Brigitte“ liegen unter den Schneemassen wie im Kälteschlaf. Schwäne, Enten und ein paar Tauben haben sich auf den Eisschollen dazwischen zusammengeduckt. Unter der Kottbusser Brücke schwimmt ein dichtes Feld von Hunderten kleiner, schwarzer Wasservögel, eingehüllt in feine Nebelschwaden, die von dem eisigen Wasser aufsteigen. Über ihren Köpfen zieht der Kreuzberger Verkehr über die Brücke - rutschend, langsam, gedämpft, jedes Fahrzeug ein rollender Iglu aus Blech und Eis. Imma Harms
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen