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Neue Armut in Berlin - Keine Kohle für die Kohle

■ Um Arme vor dem Erfrieren zu bewahren, fährt die Arbeiterwohlfahrt Kohlen aus / Bei immer mehr jüngeren Leuten wachsen in der Küche die Eiszapfen / Zahlreiche Bürger bieten spontan Hilfe an / Der Senat hält sich vornehm zurück

Von Vera Gaserow

Berlin (taz) -Seit Dienstag morgen ist bei der Berliner Arbeiterwohlfahrt das Chaos ausgebrochen: die Telefone stehen nicht mehr still, und Reporter von ZDF, Sender Freies Berlin, Quick und taz geben sich die Klinke in die Hand. Anlaß für dieses Chaos ist eine bisher beispiellose Aktion, bei der unter all dem Medienrummel inzwischen der Skandal unterzugehen droht, der diese Aktivitäten überhaupt nötig machte. Der Skandal heißt mit knappen Worten: in der Bundesrepublik gibt es nicht nur Obdachlose, die durch die momentane Kältewelle vom Erfrieren bedroht sind, sondern auch zahllose Menschen, die in scheinbar „ganz geordneten Verhältnissen“ schon längst in eisiger Kälte leben. Sie haben, schlicht gesagt, keine Kohle für die Kohle, können in ihren Altbauwohnungen nur noch mit Mantel und Schal im Bett liegen, versuchen, morgens die Zahnbürste loszueisen und hoffen, daß die Wasserleitung nicht endgültig eingefroren ist. Wie schon in den beiden zurückliegenden Jahren hat deshalb die Berliner Arbeiterwohlfahrt (AWO) eine spontane Hilfskampagne für diese beredten Zeugen unseres „Wohlfahrtsstaates“ in Gang gesetzt. Mit freiwilligen Helfern und allein aus Spenden finanziert, beliefert die AWO all diejenigen mit rund zwei Zentnern Kohle, die aus kalter Not telefonisch um Hilfe gebeten haben. Seit Anfang der Woche sind die Kohlentransporte unterwegs; etwa 300 Betroffene pro Tag werden beliefert und können dadurch die Kältewelle einigermaßen menschenwürdig überstehen. „Die alten Leute sind gar nicht das Problem“ „Ich dachte so etwas gäbe es nur in Rußland oder Polen. Daß so etwas in unserem Lande möglich ist“. Der Herr mit der dicken Pelzmütze auf dem Kopf, der reichlich verfroren in das Büro der Arbeiterwohlfahrt zurückkommt, steht noch ganz unter dem Eindruck dessen, was er an diesem Tag erlebt hat. Aufgrund eines Rundfunkberichts hat er sich wie viele andere spontan als freiwilliger Kohleausfahrer bei der AWO gemeldet. Jetzt ist er den ganzen Tag unter wegs gewesen und berichtet: „Die Leute kamen uns schon mit Mantel und Schal an den Wohnungstüren entgegen. Eiskalt war es überall. In einer Wohnung waren schon sämtliche Wasserrohre geplatzt, das Waschbecken eingefroren, und die Leute konnten nur noch notdürftig mit den offenen Flammen vom Gasherd heizen. Sie hatten keinen Krümel Kohle mehr, und die Gasrechnung muß ja erst später bezahlt werden. Solche Zustände hätte ich nicht für möglich gehalten.“ Zu seiner Verwunderung seien es vor allem jüngere Leute gewesen, die sich vor Kälte nicht mehr zu helfen wußten. „Die alten Leute sind gar nicht mehr das Hauptproblem“, berichtet auch Hans Wollwage, der Or ganisator der Kampagne der AWO, „bloß das wollen die Medien meist nicht wahrhaben. Die suchen immer noch nach dem alten Mütterchen. Dabei sind es meist jüngere Sozialhilfeempfänger und Arbeitslosenhilfebezieher, die wirklich kein Geld mehr zum Heizen haben.“ Sicher, es gibt auch ihn, den kleinen 6ojährigen Mann, der morgens plötzlich im Hof der Arbeiterwohlfahrt gestanden hat, um mit einem kleinen Bollerwagen eigenhändig ein paar Briketts abzuholen. Sein ganzes Leben lang hat er gearbeitet, bis man ihn nicht mehr ließ, weil Jüngere schneller waren, und er mit 6o auf Frührente gehen mußte. Da sein Wohngeldantrag noch auf den Ämtern schmort, bleiben ihm jetzt ganze 250 Mark im Monat zum Leben. „Aber“, so betont Hans Wollwage von der AWO ausdrücklich, im Vergleich zu den letzten Jahren ist die Zahl der hilfebedürftigen jüngeren Arbeitslosen und vor allem auch die der alleinstehenden Frauen mit Kindern stark angewachsen. Spontane Hilfsbereitschaft, Skepsis beim Senat Stark angewachsen ist allerdings zum Glück auch die Zahl der Spender und freiwilligen Helfer, die sich nach den ersten Rundfunkberichten über die „Kohle–Aktion“ bei der AWO gemeldet haben. Rund 15.000 DM sind in den letzten Tagen an Spenden eingegangen, und fast noch mit Tränen in den Augen meldeten sich gestandene Männer freiwillig zum Kohleschleppen. Ganz anders der Berliner Senat, der sich mit seiner Hilfe sichtlich zurück hält. Nachdem die AWO– Hilfsaktion einen Tag lang Rundfunk und Fernsehen beschäftigte, ließ Bürgermeister Diepgen zwar das Technische Hilfswerk zur Unterstützung anrücken, ansonsten beäugt man die Eigeninitiative der AWO in den Senatsstuben eher skeptisch. Denn natürlich hat man dort begriffen, daß diese Hilfsaktion kein besonders gutes Licht auf unseren Wohlfahrtsstaat und seine Sozialämter wirft. Und man weiß auch, daß die Arbeiterwohlfahrt mit ihrer Kampagne auch politischen Druck auf die Sozialämter ausüben will, sofort und unbürokratisch einen Zuschlag zur bisher viel zu knapp bemessenen Brennstoffhilfe zu geben.

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