: NS–Prozeß gegen Auschwitz–Aufseher
■ In Wuppertal läuft einer der letzten NS–Prozesse / Der Angeklagte soll den Gefangenen Konservendosen vom Kopf geschossen haben / Tödliche Schüsse waren beabsichtigt / Häftlinge berichten aus der Todesfabrik
Aus Wuppertal Rita Schnell
Im großen Schwurgerichtssaal des Wuppertaler Landgerichtes ist es mucksmäuschenstill. Obwohl der Saal bis auf den letzten Platz gefüllt ist, sich unter den Zuhörern zahlreiche Schüler befinden, könnte man in der gespannten Aufmerksamkeit eine Stecknadel fallen hören. Es wird ein Film gezeigt. Ein Videofilm. Auf dem Bildschirm ist eine zierliche grauhaarige Frau zu sehen, die über zugewachsene Wege durch endlose Barackenreihen geht. Die Baracken sind die Überreste des Konzentrationslagers Auschwitz–Birkenau. Die Frau, Kitty H. aus Birmingham, war einst Opfer dieser Nazi–Tötungsfabrik. 1978 kehrte sie an den Ort des Grauens zurück, gemeinsam mit einem britischen Fernsehteam und mit ihrem Sohn. Sie drehte den Film, um „Zeugnis abzulegen“ über die Machenschaften der deutschen Faschisten, „weil es Menschen wie mich“ - Überlebende des Nazi– Terrors - „bald nicht mehr geben wird“. In Wuppertal ist Kitty H. als Zeugin geladen. Gottfried Weise, 65 Jahre alter Pensionär aus Solingen, schweigt seit dem ersten Prozeßtag im vergangenen Oktober. Äußerlich völlig unberührt sieht sich der Mann auf der Anklagebank den Film an. Vor etwas mehr als vierzig Jahren, im Sommer 1944, war er einer der Herren im KZ Auschwitz. Als Unterscharführer hatte er Gewalt über Leben und Tod der ihm anvertrauten Häftlinge. Eine Macht, die er nach Zeugenaussagen schamlos mißbraucht haben soll. Denn im Lager war der unscheinbare graumelierte Herr, so die Zeugen der Anklage, als „Wilhelm Tell von Auschwitz“ bekannt. Er habe sich einen „Sport“ daraus gemacht, Häftlingen Kon servenbüchsen vom Kopf zu schießen, und zwar so lange, bis ein Schuß daneben ging und das Opfer tödlich getroffen zu Boden sank. In drei derartigen Fällen ist es nun in Wuppertal zur Anklage gekommen. Außerdem soll Weise einen Häftling erschossen haben, weil er nach dem Wecken nicht schnell genug angetreten war. Zwei weitere Gefangene sollen durch Gottfried Weises Waffe den Tod gefunden haben, weil sie sich auf einem Güterwaggon zwischen Säcken versteckt hatten. Der Schwurgerichtskammer unter Vorsitz von Richter Wilfried Klein kommt die schwierige Aufgabe zu, dem Angeklagten nach fast einem halben Jahrhundert die vorgeworfenen Taten zweifelsfrei nachzuweisen. Von Weise selbst ist da keine Mithilfe zu erwarten. In einer kurzen Erklärung am ersten Prozeßtag hat er seine Sicht der Dinge geschildert: Er habe mit den Häftlingen „keinerlei Differenzen“ gehabt, geschlagen habe er überhaupt nur, um ihnen „härtere Strafen zu ersparen“. Seit dieser Erklärung schweigt der Ex–Bauleiter, der nach dem Krieg als „Mitläufer“ eingestuft wurde und für 50 Mark einen Entnazifizierungsschein bekam. Die während der Verhandlung vorgeführten Filme dienen denn auch, so Richter Klein „keinesfalls der Stimmungsmache gegen den Angeklagten“, sondern „der Beweisführung, weil der Beschuldigte schweigt“. Über sechzig Zeugen sind benannt, um die von der „Zentralstelle für die Bearbeitung nationalsozialistischer Massenverbrechen in Konzentrationslagern“ erhobene Anklage zu erhärten. Zur Zeugenvernehmung wird das Gericht mehrfach ins europäische und außereuropäische Ausland reisen müssen. Doch schon jetzt ist in dem Prozeß, der Monate, wenn nicht Jahre dauern wird, der ehemalige Nazi wiederholt im Sinne der Anklage belastet. Eine im Krieg zugezogene Augenverletzung führte dazu, daß „der Blinde“, oder polnisch „Slepy“, wie Weise im KZ Auschwitz genannt wurde, bei den Lagerinsassen einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat. „Er war bekannt im Lager“, berichtet der niederländische Zeuge van R.. Van R. berichtet, wie er einen derartigen Vorfall durch die Ritzen seiner Baracke beobachtet hat. Auch sein Landsmann de H. bezeugt, eine solche Erschießung mit eigenen Augen gesehen zu haben. Zwar habe er „Slepy“ dabei nur von hinten gesehen, aber er habe den Blinden sehr gut gekannt, weil er einmal von ihm „fast totgeschlagen“ worden sei. Wegen dieses Vorfalls hat de H. einen Antrag gestellt, als Nebenkläger zugelassen zu werden. Gottfried Weise zeigt sich von den Vorwürfen gänzlich ungerührt. Freundlich grüßt er ins Publikum und die anwesenden Pressevertreter. Der Angeklagte befindet sich auf freiem Fuß. Nach Zahlung einer sechsstelligen Kautionssumme ist er aus der Untersuchungshaft entlassen worden, in der er sich sieben Monate befand.
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