B U C H T I P Die vertrackten Nachbarn - Vorsicht vor den Polen

■ Das Eintrittsgeld für die Hauptstadt der DDR beträgt 25,– DM / Für dieses Geld kann der Besucher, neben den Straßenbahnfahrscheinen und einem Mittagessen mindestens auch ein Buch kaufen, das seine Weltsicht in Richtung real existierenden Sozialismus erweitern könnte / Die Auseinandersetzung mit Polen hat hier ihre eigene Sprengkraft

Das polnische „Kriegsrecht“ von 1981 blockierte die Touristenströme über die „Oder–Neiße–Friedensgrenze“ und sperrte die „Brücken der deutsch– deutschen Freundschaft“ für die Mehrheit der Bürger der DDR und der VR Polen auf lange Zeit. „Zwei Ufer hat der Strom“ sollte eine Anthologie heißen, die damals im Verlag der Nation zusammengestellt wurde und in der DDR–Autoren ihr Verhältnis zum östlichen Nachbarn literarisch reflektierten. Dieses Buch ist nie erschienen. 1986 erschien im Verlag Volk & Welt die Anthologie „Nachbarn - Texte aus Polen“. Der Klappentext des Buches und eine Vorbemerkung eröffnen den Band mit alles– und nichtssagenden Andeutungen über die gegenwärtigen polnischen Realitäten: „Anliegen der Herausgeber war es, vorbei an allem vordergründig Spektakulären, das aus den Schlagzeilen hinreichend bekannt ist, auf den diffusen, unentschiedenen Schweberaum zwischen dem Alles und dem Nichts, auf den Alltag (“der von zeitweiligen Widersprüchen zwischen hohem gesellschaftlichen Ziel und den Hemmnissen geprägt wird, deren Ursachen sowohl historisch und soziologisch als auch durch individuelles Versagen bedingt sind“) zu sehen, den Land und Leute ungeachtet aller Aufbrüche und Enttäuschungen haben.“ Der trainierte DDR–Leser ist es gewohnt, solchen apokryphen Formulierungskünsten sein jeweils eigenes, mehr oder minder beschränktes Wissen hinzuzufügen. Leider aber schwindet durch derlei ausgleichgeschaltete Sprache und durch die Vermeidung jeder extremen öffentlichen Benennung bei sehr vielen Lesern Stück für Stück das Interesse und macht einer weitverbreiteten ignoranten Distanz Platz. Und schon sind auch die Herausgeber mit pejorativen Sätzen bereit, die polnischen Ereignisse mit dem üblichen Verdrängungswort–“schatz“, der noch jedesmal gegenüber realsozialistischen Erneuerungsversuchen angewendet wurde, zu denunzieren: „Bericht über die schwere Gesellschaftskrise der letzten Jahre mit ihren konterrevolutionären und anarchistischen Auswüchsen ... fehlen - diese Zeit literarisch zu verarbeiten dürfte, wie die Erfahrung zeigt, noch sehr lange dauern.“ Hier scheint die Weisheit der inneren Selbstzensoren der Herausge ber der Weisheit der bekannten drei indischen Äffchen nahe zu sein: Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen ... Meisterstücke zeitgenössischer polnischer Prosa, von Autoren geschrieben, die der „Solidarität“ nahestehen, wie z.B. Leszek Szarugas „Der Denunziant“ fehlen denn auch in der vorliegenden Anthologie. Was aber enthalten die Beiträge der Anthologie an gegenwärtigem polnischen Geschehen? Taucht irgendwo in diesem 500seitigen Buch das Wörtchen „Solidarnosc“ auf? Es taucht auf, ein einziges Mal, auf Seite 204 (“Die Ratten und das Auto“), kombiniert und in deutscher Übersetzung, fast könnte der Leser es übersehen: „Vielleicht schließen sie sich zur Rattensolidarität zusammen, unterstützen einander mit Kraft und Erfahrung.“ Die DDR–Gewerkschaftszeitung Tribüne rezensiert die Anthologie folgendermaßen: „Breitgefächert ist die thematische Vielfalt. So schreibt der Kritiker und Feuilletonist Hamilton über Umweltverschmutzung von einst und jetzt, spottet mit satirischer Feder über den verdreckten Weichselstrom. Kornel Filipowicz geht dem Zauber des PEWEX nach, und Jerzy Urban entlarvt in seiner Geschichte Wie die Häschen hüpfen die Degradierung akademischer Titel zum gesellschaftlichen Statussymbol. Wir lesen - etwa bei Jaroslaw Iwaszkiewicz - über Polen als alte Kulturlandschaft, erfahren von Traditionen und Wandlungsprozessen, auch von Widersprüchen und subjektiv begründeten Hemmnissen auf dem Weg in die sozialistische Zukunft.“ Aufmerksame Leser können diese Oberflächlichkeiten bald vergessen. Sie werden aus dem Buch Dinge erfahren, die weit tiefer blicken lassen. Das sind nicht „auch Widersprüche und subjektiv begründete Hemmnisse“, sondern handfeste, objektive, von der Macht und der Partei produzierte Mißstände. Das aber dürfen die Polen schon sagen, die DDR–Deutschen vielleicht noch nicht einmal denken ... Über die „rebellische Jugend“ heißt es zum Beispiel: „Sie haben zu lange stramm stehen, zu viel marschieren müssen, nun sitzen sie auf den Bürgersteigen herum.“ Und weiter sinngemäß: „Der Ar beitende haßt den Fabrikherren, er wird auch jene hassen, die ihn ablösen.“ „Die Sprache unserer Medien gaukelt vor, versteckt, ist aufdringlich, langweilig.“ „Die geförderten Bücher sind verlogen ...“ „Die Sprache des Marxismus tönt in unserem Lande starr und hölzern.“ „Wir werden nie erfahren, wieviel menschliche Energie vergeudet wurde, weil man sie nie geweckt hat. Die Selbstzufriedenheit der Macht. Man schafft den beschränkten Menschen, eine Art genormter Kleinstwohnung im Bereich der Psyche - ein beschämender Zielpunkt.“ Wer die Ursachen für die zyklisch wiederkehrenden politischen und wirtschaftlichen Krisen in Polen kennt, und wer sich mit den Erneuerungsversuchen der polnischen Gewerkschaft vertraut gemacht hat, weiß von den Forderungen der Arbeiterbewegung nach Selbstverwaltung, Selbstorganisation, Beseitigung des Privilegien– und Korruptionswesens, Abschaffung der Zensur, Gewährleistung der demokratischen Menschenrechte... Tatsächlich kann das Buch auch wie eine literarische Begründung dieser politischen Anliegen gelesen werden: man erfährt von Bestechungen, dunklen Machenschaften zwischen Betrieben und Ministerien, Fälschungen von Bilanzen, Schönfärbereien, Vertuschungen von Fehlentscheidungen, von zweierlei Krankenversorgung (für privilegierte Regierende und deren Günstlinge und für „gewöhnliche“ Menschen), es gibt eine zweite Währung - den Dollar - mit dem möglich wird, was ohne ihn nicht geht. Schriftsteller werden von der Macht als Störungen im Getriebe gesehen, die Zensur wird „Tante Zensi“ genannt (“hoffentlich merkt sie nichts“), im Justizwesen, bei der Polizei, im Staatsapparat geht es phrasenhaft, ungerecht, brutal und dumm zu, Schmutz wird versteckt, die Bürokratie und die Schein–“wissenschaften“ beschäftigen sich selbst (das beschreibt Jerzy Urban - der jetzige Regierungssprecher), Der Westen aber wird nicht als Alternative empfunden, die Unglückseligkeit der gegenwärtigen Zeit ist, nicht nur für Polen, in dieser Anthologie mit slawischem Galgenhumor und schmerzhaft wiedergegeben. .. Rüdiger Rosenthal , Berlin/DDR Anm.: PEWEX: polnischer Intershop