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Das deutsche Gummibärchen und der Weltmarkt

■ Internationale Süßwarenmesse in Köln / 1987 wird Knabberjahr / 37.000 Tonnen Zuckerzeug mehr / Pizza–Cräkker und biodynamische Kekse kommen

Von Holger Noltze

Der stellvertretende Vorsitzende des „Bundesverbandes des Süßwaren Groß– und Außenhandels“, ein eher unscheinbarer kleiner Mann mit ungesund schnarrendem Sprechorgan, legt bei der Erläuterung der overhead–projizierten Umsatzstatistik „Knabberartikel“ ein zufriedenes Lächeln auf. Er hat allen Grund dazu. Denn nicht zuletzt den in seinem Verband organisierten Süßwaren–Importeuren ist es zu danken, daß sich der „Pizza–Cräkker“ nun auch auf dem deutschen Markt etablieren konnte. Und endlich sei im vergangenen Jahr die amerikanische „Lutscherparade“ bei uns heimisch geworden: Beweise für die gerade in dieser Branche so dringend erfahrene Notwendigkeit zur Innovation. Am Wahlsonntag öffnete in Köln die 17. Internationale Süßwarenmesse ihre Tore, um Fachbesucher aus aller Welt auf die Zehntausenden Spezialitäten loszulassen, die da von 887 Unternehmen aus 36 Ländern aufgetürmt worden sind. Auf der weltweit wichtigsten Fachmesse ist so ziemlich alles zu sehen, von Rumkugeln aus Schweden, Schokoladenzigaretten aus Yugoslawien, Cola–Bonbons aus der Türkei über Brausepulver aus Hongkong bis zu guatemaltekischem Kaugummi. Die Branche, und besonders die deutsche Süßwarenindustrie, gibt sich verhalten optimistisch. Im letzten Jahr haben die Deutschen geschnuckert wie nie zuvor. Hatte es in der ersten Jahreshälfte 86 nach einer Preisanhebung emp findliche Umsatzeinbrüche im Bereich der Tafelschokolade gegeben, so konnte unterm Strich das Vorjahresergebnis doch um zwei Prozent in der Menge (das sind allein 37.000 Tonnen Zuckerzeug mehr) und um vier Prozent im Wert gesteigert werden. Die Differenz ergebe sich dabei nicht aus höheren Preisen, beteuert Heinz Thormann, Vorsitzender des Verbandes der Süßwarenindustrie, zeige vielmehr den neuen Trend an. Gut gehts uns halt - weshalb verstärkt statt billiger Massensüßware teure, hochveredelte Luxus–Sweeties verlangt werden. Mit Pfennigsartikeln Millionen verdienen kann man nach wie vor mit Gummibärchen, seit die Amerikaner ihr Herz für die klebrigen deutschen Kleintiere haben. Allein in den ersten neun Monaten 1986 wurden 24.000 Tonnen ausgeführt und damit 107 Millionen Mark eingenommen. Das Exportgeschäft läuft gut, trotz befürchteter Schwierigkeiten durch die aufgewertete D– Mark. Dagegen fürchtet man bei den Süßwarenherstellern - und Heinz Thormann, der Vorsitzende, legt da auch die Stirn in nachdenkliche Falten - um die Entwicklung der Inlandsnachfrage. Mittelfristig. Muß man sich doch auch hier um den aussterbenden Deutschen sorgen, „pro Jahr immerhin 150.000 Mägen, äh ..Menschen weniger“. Eine fast tragische Entwicklung, wenn man in Erwägung zieht, daß die viele Schnukkerei als Ersatzhandlung für natürlicheren Lustgewinn die gewünschte demoskopische Entwicklung ja gerade verhindern hilft: Wer mehr nascht, liebt weniger. „Qualitatives Wachstum“ und die schon zitierte „Innovation“ sollen als Rezepte gegen die heraufdräuende Krise wirken. Revolutionierende Neuheiten (nach dem letztjährig präsentierten „Musikbonbon“ und dem „Papstlollie“) sind diesmal jedoch rar, eher scheint sich ein spielerischer - postmoderner? - Umgang mit mit bekanntem Material abzuzeichnen: Bubble Gum aus der Tube, Fußbälle mit Pfefferminzcreme, das „Cherry–Cola und Pummuckl–Schleckbrause–Bonbon“, die Reihe ließe sich verlängern. Auch das „allenthalben festzustellende“ Umwelt–/Gesundheitsbewußtsein schlägt durch: Müsli–Riegel haben den Riegel– Markt umgekrempelt. Ein Anbieter aus Erdmannshausen (!) propagiert „Kekse aus biologisch–dynamischem Anbau“. Unangefochten ausbaufähig konnte sich vor allem der konventionelle Knabbersektor behaupten, der 1986 um satte neun Prozent zulegte. „Das inländische Wachstum des Knabberartikelverbrauchs wird von der deutschen Knabberartikelindustrie auf veränderte Verzehrs– (Verkehrs–?) Gewohnheiten und die gewachsene Freizeit zurückgeführt.“ Die 35–Stunden–Woche ist so gesehen nur ein weiterer Schritt in Richtung auf eine unablässig knabbernde Fernseh–Nation. Die Fa. Wolff (“Fischli“ u.a.) hat die Zeichen der Zeit erkannt: 1987 wurde als „Knabberjahr“ ausgerufen. Am Sonntagmorgen wurde es in Köln, am Wahlabend in Bonn eingeläutet.

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