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Zurückhaltung in Bonn - Verunsicherung im Osten

Auch drei Tage nach Gorbatschows Demokratisierungsrede vor dem Zentralkomitee seiner Partei, halten sich bundesdeutsche Politiker mit öffentlichen Äußerungen noch zurück. Außenpolitische Experten in Bonn sehen Gorbatschows Demokratisierungsvorschläge eingebettet in eine Perspektive auf längere Sicht und „nicht so sehr als Momentaufnahme“. Seit Chruschtschows Abrechnung mit Stalin 1956, fügen sie aber auch hinzu, habe sich derartiges nicht mehr abgespielt. Die zentrale Problematik von Gorbatschows Reformvorschlägen sei die der Demokratisierung, die die gesamte Parteihierarchie erfassen soll. Auf der anderen Seite sei die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit wohl entscheidendes Moment der Erneuerung. Die Perspektiven, die sich jetzt eröffneten, seien unumkehrbar. Es wäre jetzt falsch, die Demokratisierungsvorschläge Gorbatschows mit denen westlicher Demokratien zu vergleichen. Man könne „unser System“ nicht als Muster setzen. Es seien jedoch in den jüngsten Reformvorschlägen „Annäherungen“ an westliche Demokratievorstellungen „angelegt“. Man solle zwar nicht in Euphorie geraten, aber als Schlußfolgerung sei es wichtig, die Außenpolitik gegenüber der Sowjetunion so anzulegen, daß sie die Entwicklungen dort erleichtert und nicht erschwert. Aber in Bonn ist es noch schwierig, detaillierte Einschätzungen zum ZK–Plenum der KPdSU zu bekommen. Das gilt auch für die Opposition. Möglicherweise werde es aus dem Präsidium der SPD heraus am Montag abend eine Stellungnahme dazu geben, heißt es in der Baracke. Otto Schily von den Grünen bewundert den „ungeheuren Mut“ von Gorbatschow, muß die Rede des Parteichefs jedoch erst noch im einzelnen lesen. Besorgt ist er darüber, daß die Antwort aus dem Westen „zu flau ausfällt“. Es sei nötig, „sehr positiv im Sinne von Ermutigung“ auf Gorbatschows Reformprojekt zu reagieren, meinte Schily gegenüber der taz. Unterschiedliche Reaktionen im Ostblock Als erste Reaktion auf die Rede des sowjetischen Parteichefs Michail Gorbatschows in Jugoslawien hat die Zeitung Politika am Freitag den „politischen Mut“ des Generalsekretärs gelobt. „Gorbatschow hat erneut seinen außergewöhnlichen politischen Mut und seine unerschütterlichen Bemühungen bewiesen, den Durchbruch zu wirklichen Änderungen in der Sowjetunion anzuregen“, schreibt die Zeitung in einem Leitartikel. Demgegenüber nahm sich die rumänische KP unter Nicolaie Ceausescus Regie das Recht, Michail Gorbatschows innerparteiliche Stalinismusabrechnung vollkommen zu ignorieren. Im Zentralorgang Scinteia stand gestern lediglich im Innenteil als Kurzmeldung zu lesen, in Moskau sei eine Parteitagung zu Ende gegangen. Tags zuvor war sie in einer kurzen Notiz angekündigt worden. Im Nachbarland Ungarn hingegen füllten Gorbatschows Ausführungen spaltenbreit die Medien. Fast zu ausführlich, meinten Kritiker, denn der Grundtenor sei einhellig selbstbewundernd gewesen: Was die in der Sowjetunion vorhaben, ist bei uns längst Wirklichkeit. In der Tat ließ es Janos Kadar bei den letzten Parlamentswahlen sogar erstmals zu, daß sich parteiunabhängige Kandidaten bewarben. Die Offenheit mit welcher Gorbatschow die Probleme beim Namen nannte, sind für die Magyaren nicht unüblich, ihre Presse gehört mit Abstand zu der kritischsten Osteuropas. Anders dagegen in der Tschechoslowakei. Nach telefonischen Rückfragen in Prag war die Mittwochsausgabe des allgemein geschmähten Parteiorgans Rude Pravo in bälde ausverkauft. Sätze, die dort in einer TASS–Übersetzung aus Moskau herüberkamen, fanden sich noch nie in dem Parteiblatt. In der DDR–Presse wurden dagegen die brisantesten Zitate fein säuberlich gestrichen. Mehr als das Mindestmaß an Information erfüllte die Ostberliner Presse gestern und vorgestern nicht. Man kann vermuten, daß dies Parteichef Honecker schon reichlich weitgehend erschie. Die Polen lasen erst gestern aufmerksamer ihre Zeitungen als sonst. Warschau ist dafür bekannt, daß es den Ereignissen hinterherhinkt. So druckte das ZK–Organ Trybunas Ludu mit einem Tag Verspätung am Donnerstag Gorbatschows gesamte Rede ab. Die polnischen Medien vermerken jedoch bereits, daß die personellen Veränderungen im Politbüro wesentlich geringer verlaufen seien als erwartet. Und an diesem Punkt sehen die meisten Polen Gorbatschows Reformeifer mit Skepsis entgegen. Denn für sie ist klar: Freiwillig werden alte Parteikader nicht das Feld räumen, und der gesellschaftliche Druck von der Basis fehlt beim „Großen Bruder“.

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