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Friedliche Koexistenz in einem Land

■ Über Qualität und Vielfalt des Ersten Nationalen Theaterfestivals der DDR in Ost–Berlin

Die Mammutschau des DDR–Theaters geht am heutigen Montag mit einer Pressekonferenz zu Ende. 46 Inszenierungen waren im Angebot des Festivals. Neun davon hat sich unser Beobachter angesehen. Im folgenden werden auch weniger bekannte Seiten des DDR–Theaters dargestellt: Renate Ullrich, Theaterwissenschaftlerin der DDR, berichtet von der Arbeit des Schweriner Theaters. Karl–Heinz

Nach dem siebten Vorhang für Heiner Müllers Umsiedlerin kam der Regisseur der Dresdner Inszenierung auf die Bühne: eine runde Nickelbrille im ebenso runden Gesicht, knappes, strähniges Haar, einen blauen Arbeitskittel, unten ein paar verwaschene Jeans. Da war er also doch noch auf der Bühne: Bert Brecht. Größer und dicker geworden, reinkarniert von B. K. Tragelehn. Nach einem Egmont des Berliner Deutschen Theaters, in dem aus dem offensten, freiesten, gewinnendsten Charakter des deutschen Theaters ein verklemmter, grüblerischer Intellektueller geworden war, bei dem der Theaterbesucher fürchten mußte, daß er sich den Arm auskugelt, wenn er ihn um Klärchens Schulter legt, nach einem Ballett aus Gera, dessen Tänzerinnen zu schwer waren, als daß die auch nicht gerade grazilen Tänzer sie noch in die Höhe hätten stemmen können - die Damen wurden also auf Händen getragen -, nach jeder Menge provinziellem Mief sehnte ich mich nach einem Besen, der das alles wegfegen würde: die Schauspieler, die - während die einen brav ihre Dialoge aufsagten - verklemmt in den Ecken standen und nicht wußten, wohin mit den Händen, die Tänzer, die - die Arme zum Sonnengott erhebend - nach Luft schnappten, die Kollegen, die darüber noch intelligente Fragen zu stellen vermochten. Heiner Müllers dreißig Jahre altes Stück war dieser Besen. Nach der ersten Szene war klar, was Theater kann, wenn man kann. Eine drastische Sprache, packende Szenen, Intelligenz und Spielfreude, und schon war das Festival gerettet. Die 46 Inszenierungen des Ersten Nationalen Theaterfestivals der DDR gab es leider nicht schön verteilt, so daß man wenigstens ein Drittel davon hätte sehen können, sondern sie lagen zu dritt oder viert an einem Abend nebeneinander in verschiedenen Theatern der Hauptstadt. Wer die Inszenierungen von Anfang bis Ende sehen wollte, konnte auf höchstens zehn Vorstellungen kommen. Ein zu kleiner Ausschnitt für zusammenfassende Urteile. Genau darum aber war es den Veranstaltern gegangen. Einer von ihnen erklärte mir: „Früher konnte man sagen, die Dresdner machen diese Art von Theater, in Leipzig wird mehr jene Seite gepflegt. Das ist schon lange vorbei. Heute wissen wir nicht mehr, wo es lang geht. Nicht nur jedes Theater geht seinen Weg, nein, jeder Regisseur. Es gibt keinen prägenden Stil mehr. Wir dachten uns, man sollte alles mal nebeneinander stellen, dann wird man sehen, wohin der Karren fährt.“ Der einzig mögliche Schluß nach einer Woche DDR–Theater: Es gibt keinen Karren mehr, sondern einen ganzen Wagenpark. Wie auch anderswo sind die meisten Wagen ältere, abgefahrene Modelle für die Entspannung suchende Mittelklasse. Das Ballett aus Gera wird da seine Dienste ebenso tun wie das Landestheater Altenburg. „Wo es lang geht“ wird keine Führung mehr ausmachen können, und man wird das hoffentlich unter die Aktiva buchen. Wenn in einem Pressegespräch die Leiterin des Geraer Balletts betont, sie erarbeite ihre Konzeptionen allein, ohne große Zuschauer– oder Parteikonsultationen, dann ist das ebenso wenig typisch wie die Schweriner Praxis, in der alle Erfolge nicht zuletzt aufgrund der engen Kontakte mit den staatlichen Stellen möglich wurden. Spielt der Staat keine Rolle mehr? Ist er schon abgestorben? Nein: Er zahlt und zensiert, aber er kann (will?) keine Direktive mehr vorgeben. Seine Richtlinienkompetenz in Sachen Theater scheint ihm in den Handgemengen der letzten Jahre abhanden gekommen zu sein. Eine Art Vetorecht ist ihm geblieben. Schlimm genug. Jede Uraufführung muß vom Kulturminister höchstpersönlich genehmigt werden. Aber selbst danach wird es noch einmal spannend. Volker Brauns „Schmitten“ zum Beispiel hat eine signifikante Geschichte. Die erste Fassung des Stücks von den Widersprüchen der Automatisierung im Sozialismus stammt aus dem Jahre 1968, die überarbeitete aus dem Jahre 1978, die Uraufführung fand 1983 in Leipzig statt, dann war es eine Weile still um das Stück, bis es jetzt in Schwerin wiederaufgeführt werden konnte. Es gibt kein Menu mehr, das die Köchin, die den Staat regiert, den Theatern diktiert, sondern es wird a la carte gegessen. Manchen mag das chaotisch vorkommen, viele wählen lieber. Nicht nur auf dem Theater. Dort trifft man auf die unterschiedlichsten Stile, Auffassungen, ja sogar grundsätzlichen Orientierungen. In der Weltbühne vom 30. Dezember 1986 hieß es über die Lustige Witwe aus Karl–Marx–Stadt: „Warum begegnet uns der balzende, girrende Schwachsinn ohne jede kritische Distanz? Müssen denn die Dialoge in französisierender Manier, affektiert und leicht tuntig gefärbt, angeboten werden? Wird nicht in einer solchen Interpretation das Publikum verleitet, den menschlichen Ausverkauf der Gesellschaft, deren Zynismus das Libretto deutlich akzentuiert hat, als etwas harmlos Erheiterndes mit verständnisinniger Dankbarkeit entgegenzunehmen?“ Friedliche Koexistenz in einem Lande. Arno Widmann

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