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Selbstmord in der Untersuchungshaft

■ Im Braunschweiger Untersuchungsgefängnis Rennelberg legten drei Jugendliche Feuer und kamen darin um / Das niedersächsische Justizministerium reagierte mit Maulkorb für untergeordnete Dienststellen / Jugendamt: Soll man „in solch einen Jugendlichen“ noch investieren? / Die Selbstmorde waren vorhersehbar

Von Michael Fender

Die Staatsanwaltschaft vor Ort und die Leitung des Braunschweiger Untersuchungsgefängnisses Rennelberg waren auf Weisung von oben zunächst auf Tauchstation gegangen. Das niedersächsische Justizministerium hatte schnell geahnt, daß es etwas zu verbergen galt. Und so erfuhr die Öffentlichkeit bis heute nur das, was nicht mehr zu verheimlichen ist: Kurz vor 20 Uhr am 21. November 1986 hatten drei Jugendliche in ihrer Zelle im Rennelberg– Gefängnis Feuer gelegt. Die Inhaftierten konnten zwar noch aus der Zelle befreit werden. Doch keiner von ihnen überlebte. Die hinhaltende Informationspolitik des Justizministeriums war selbst in der Regierungskoalition auf Kritik gestoßen. Die FDP–Abgeordnete Sigrid Schneider, jugendpolitische Sprecherin ihrer Fraktion, hatte mehr wissen wollen, vor allem eine Antwort auf die Frage, warum die drei, erst 15, 16 und 17 Jahre alt, überhaupt in Untersuchungshaft gesessen hätten. Schließlich, so Sigrid Schneider, liege dem Justizministerium seit 1985 eine hauseigene Untersuchung über die katastrophalen Folgen von Untersuchungshaft bei Jugendlichen vor. Selbstmord aus Übermut? Das Justizministerium reagierte bislang auf diese Fragen nur mit Ausflüchten. Für Winfried Hartmann, Leiter der Justizvollzugsabteilung im Ministerium, ist die Frage schon durch einen Blick in die Akten der drei Jugendlichen erledigt: Handtaschenraub, Einbrüche und Diebstahl. Trotz ihres Alters „harte Burschen“, die ansonsten froh und munter gewesen seien. Von Selbstmordabsichten keine Spur. Und Justizminister Walter Remmers orakelte vor dem Landtagsausschuß für Rechts– und Verfassungsfragen darüber, daß die drei vielleicht aus Übermut den Brand gelegt hätten. Nicht ausgeschlossen werden könne, so räumte Remmers immerhin ein, daß sie mit dem Feuer auf „ihre seelische Notlage aufmerksam machen“ wollten. Der Minister hätte sich nicht bei Mutmaßungen aufzuhalten brauchen. Die in Akten und Berichten der verschiedenen beteiligten Dienststellen enthaltenen Informationen wären aufschlußreicher gewesen. Schon der zuständige Richter hatte bei der Einlieferung des 17jährigen Andreas G. ins Rennelberg–Gefängnis am 5. Oktober ausdrücklich Selbstmordabsichten notiert. Da der Jugendliche keinen festen Wohnsitz vorweisen konnte, sondern „nur“ bei seinem Bruder in Braunschweig untergeschlüpft war, war er nach einem Handtaschenraub verhaftet worden. Nach mehreren Selbstmorddrohungen und „aggressiven Ausbrüchen“ im Knast sowie mehrfachen Verlegungen von der JVA Braunschweig ins Landeskrankenhaus Königslutter und in die JVA Hannover fand am 11. November in Braunschweig ein Haftprüfungstermin statt. Der zuständige Jugendrichter handelte unorthodox aber menschlich: „Es war klar“, so ein am Haftprüfungstermin Beteiligter, „daß eine vertretbare Lösung gefunden werden sollte, der auch Andreas zustimmen konnte.“ Fehlende Kostenzusage Der Richter, ein Anwalt, und beteiligte Betreuer von der Jugendgerichtshilfe Braunschweig hatten sich daher schon im Vorfeld bemüht, einen Platz in einer Jugendhilfeeinrichtung zu finden. Eine Jugendwohngruppe der Braunschweiger Arbeiterwohlfahrt erklärte sich bereit, Andreas aufzunehmen. Einer Aufhebung des Haftbefehls stand nun nur noch die fehlende Kostenzusage des zuständigen Jugendamtes im Wege. Mit den Worten „es kann sich nur um ein paar Tage handeln“, wurde der 17jährige wieder auf seine Zelle geschickt. Doch das war eine gravierende Fehleinschätzung: Bei seinen telefonischen Bemühungen stieß der Richter nur auf Ablehnung. Schließlich habe er hier keinen festen Wohnsitz mehr, teilte das Jugendamt Nienburg - dort wohnte seine letzte Pflegefamilie - dem Gericht lapidar mit. Das Jugendamt Braunschweig ging ebenfalls auf Tauchstation: Kein fester Wohnsitz in Braunschweig, also auch keine Kostenübernahme. Obwohl das Amt genau wußte, daß es bei einer Aufhebung der Untersuchungshaft kaum um eine Kostenübernahme herumkommen konnte, schaltete es erst einmal auf stur. Denn ein Ausweg für die zahlungsunwilligen Ämter bestand durchaus noch. Der Richter hätte Andreas G. einfach in eine der drei dafür vorgesehenen geschlossenen Heime einweisen können. Dann hätte die Landeskasse zahlen müssen. Aber damit wäre auch, darüber waren sich die am Haftprüfungstermin Beteiligten einig, die Rückkehr von Andreas in die U–Haft vorprogrammiert gewesen - spätestens nach dem ersten Ausbruch aus einem der geschlossenen Heime. Eine letzte Chance Nicht nur die Unterbringung des 17jährigen in einer von ihm mitausgewählten Wohngruppe war durch die ablehnende Haltung der Jugendämter gefährdet. Ab Februar 1987 sollte Andreas einen Ausbildungsplatz auf dem Jugendschiff „Korsar“ antreten. Nach Auffassung des Gerichts wäre das die Chance gewesen, um trotz der drohenden Bewährungsstrafe für verschiedene Eigentumsdelikte und Handtaschenraub doch noch festen Boden unter die Füße zu bekommen. Die Unterbringung in der Braunschweiger Jugendwohngruppe sollte nur die Zeit überbrücken, bis der zugesicherte Platz auf der „Korsar“ frei gewesen wäre. Doch da wollten die Jugendämter nicht mitspielen. „Wir wissen gar nicht, ob wir überhaupt noch Geld in solch einen Jugendlichen investieren sollten“, hatte man nach Angaben eines Zeugen die Lage unmißverständlich umschrieben. Am 21. November hatte der Richter die endgültigen Absagen beider Jugendämter beisammen. Am Abend dieses Tages erledigte sich die „Investitionsfrage“ auf makabre Weise von selbst! Andreas G. erlag seinen Verletzungen am 22. November. Einen Tag später starb der 16jährige Dirk K. Zwei Tage schwieg das Justizministerium, bevor es am 3. Dezember bekanntgab, daß auch der 15jährige Michele D. in einem Hamburger Spezialkrankenhaus am 1. Dezember seinen lebensgefährlichen Brandverletzungen erlegen war. Noch nach seinem Tod also schienen es die Justizbehörden mit diesem Jungen nicht besonders eilig gehabt zu haben - wie schon zuvor: In dem Verfahren gegen Michele hatte das Gericht Ende Oktober ein Gutachten bestellt, um die Schuldfähigkeit des Jugendlichen überprüfen zu lassen. Die sofortige Verlegung in das Landeskrankenhaus Königlutter war damit beschlossene Sache, glaubte zumindest Micheles Anwalt, Gundolf Teßmann: „Der zuständige Haftrichter hatte schließlich schon zu Beginn der U– Haft festgestellt, daß das Rennelberg–Gefängnis für Michele denkbar ungeeignet sei.“ Doch es passierte überhaupt nichts. Es sei in Königslutter kein Bett frei gewesen, versuchte das Justizministerium im nachhinein diesen Vorgang zu entschuldigen. Doch diese Antwort hat mit dem tatsächlichen Vorgang nichts zu tun. Denn bis zum 21. November, dem Brand–Tag, hatte das Landeskrankenhaus weder eine Anfrage noch den Einweisungsbeschluß vorliegen. Die Akte Michele D. war in Braunschweig schlicht auf die lange Bank geschoben worden.

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