piwik no script img

Ernüchterung nach einem Jahr ohne Baby Doc

■ In Haiti machen ein Jahr nach dem Sturz Duvaliers alte Anhänger Boden gut / Liberale aus dem haitianischen Kabinett verdrängt / Tote bei Demonstrationen für Menschenrechte und Reformen / Arbeitslosigkeit steigt / Haitianer flüchten wieder vor der Not in ihrem Land

Von Ralf Leonhard

Ein Jahr ist es her, daß die Straßen von Port–au–Prince Schauplatz eines Freudentaumels waren. „Er ist weg. Er ist weg“, hatten die Menschen in spontanen Begeisterungsausbrüchen gerufen. „Baby Doc“ Duvalier, der feiste „Präsident auf Lebenszeit“, hatte vor Tagesanbruch mitsamt seinem Hofstaat das Land verlassen. Die letzte Familiendiktatur des Kontinents war abgetreten. „Jetzt wird alles besser“, jubelte so mancher, der unter der Diktatur Hunger gelitten und keine Arbeit gefunden hatte. Ein Jahr später haben sich diese Hoffnungen für die meisten zerschlagen. Anfang des Jahres wurden die letzten vier liberalen Minister aus der Regierung entfernt und durch Hardliner ersetzt. Erziehungsminister Rosny Desroches wurde gechasst, weil er Gehaltszahlungen an rund 800 Duvalier–Günstlinge gestoppt hatte, die nur zum Schein in den Gehaltslisten geführt wurden. Damit machte er sich die ihrer Pfründe beraubten Parteigänger „Baby Docs“ zu Feinden, die prompt bei General Namphy intervenierten. Außenminister Baptiste Hilaire mußte das Kabinett verlassen, weil er eine Säuberung unter Duvalieristen begonnen und sieben Botschafter abberufen hatte, darunter die Missionschefs in Bonn und Paris. Justizminister Francois Latortue wiederum hatte sich der konsequenten Strafverfolgung der Tontons Macoutes - der Mitglieder der aufgelösten Privatmiliz der Duvaliers - verschrieben und mußte ebenfalls gehen. Im Kabinett verblieben sind damit nur drei Funktionäre, die sich rühmen können, unter Duvalier eine weiße Weste bewahrt zu haben. Die „dechoukage“ (Entwurzelung des Duvalierismus) ist gestoppt worden. Manche der verhaßten Macoutes müssen sich zwar noch auf dem Lande verborgen halten, andere dagegen sind stillschweigend wieder in die Sicherheitskräfte und die Armee aufgenommen worden, und der Ruf „Vive larmee“, der die Soldaten am 7. Februar 1986 nach der Flucht „Baby Docs“ hochleben ließ, ist schon lange verstummt. Im April hatten die Streitkräfte in eine Demonstration geschossen. Sieben Menschen wurden getötet, Dutzende verletzt. Am 7. November schritten Soldaten gegen einen Marsch für Menschenrechte ein und töteten drei Demonstranten. Zwei Leichen ließen sie tagelang auf der Straße zur Abschreckung liegen - eine Methode, mit der schon die Tontons Macoutes das Volk eingeschüchtert hatten. Zuletzt floß Ende Januar das Blut einer jungen Frau, die vor der Polizei vor dem Polizeiquartier im Stadtzentrum von Port–au–Prince erschossen wurde. Gering war deshalb das Interesse der Bevölkerung, als die Übergangsregierung im November zu den Urnen rief, um 40 Abgeordnete für eine Verfassungsgebende Nationalver sammlung zu wählen (20 weitere wurden durch den Regierungsrat bestimmt). Nur 40 Prozent der Wahlberechtigten folgten dem Ruf, ein deutlicher Mißtrauensbeweis. Als schließlich abzusehen war, daß die „Messieurs Constituteurs“ (und eine Madame) mit ihrer Aufgabe, ein Grundgesetz aus dem Boden zu stampfen und es am 7. Februar vom Volk in einem Referendum abgesegnen zu lassen, nicht fertig werden würden, entschied General Namphy kurzerhand, daß über den unfertigen Vorentwurf abgestimmt wird. Die progressive Kirche empfiehlt ein Nein–Votum. Ein loses Bündnis von linksgerichteten Gruppierungen ruft hingegen zum Boykott auf. Ob die für November versprochenen Parlamentswahlen stattfinden werden, ist auch nicht mehr sicher. Rund 50 Parteien und annähernd 200 Kandidaten wollen bisher antreten. Doch schon mehren sich Anzeichen, daß diese Wahlen behindert werden könnten.Ein für General Namphy unbequemer Kandidat wurde als „unerwünschter Ausländer“ des Landes verwiesen, weil er in seinem 20jährigen Exil in den USA einen US–amerikanischen Pass erworben hatte, und das Verfahren zur Wiedererlangung der haitianischen Staatsbürgerschaft noch nicht abgeschlossen sei. Lediglich in der Presse und in den Gewerkschaften ist heute noch zu spüren, daß sich gegenüber „Baby Docs“ Zeiten etwas verändert hat. Die Zeitungen blieben bisher von einer neuen Zensur verschont, genießen jedoch wenig Vertrauen, weil sie mit Genuß jedem Gerücht nachjagen. Und auch die Arbeiter machten die bittere Erfahrung, daß die Gewerkschaftsfreiheit zunächst ein sehr theoretisches Recht ist: die US– amerikanischen Fertigungsbetriebe, die dem Land unter „Baby Doc“ ein paar Jahre des scheinbaren Wirtschaftsaufschwungs beschert hatten, machten einer nach dem anderen dicht, als sich die Arbeiter zu organisieren begannen. Allein in diesem Bereich wurden 12.000 bis 15.000 Arbeiter entlassen. Tausenden von Bauern wurde durch Billigimporte aus den USA die Existenzgrundlage entzogen. So suchen immer mehr Haitianer ihr Heil wieder in der Flucht ins „gelobte Wirtschaftsland“ Amerika.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen