: „Safer Sex“ auf allen Kanälen
■ Thema AIDS jetzt auch für breite Bevölkerungskreise erschlossen / Fernsehen unterstützt Aufklärungskampagne / AIDS–“Elefantenrunde“ im ZDF / Nutten lieben nur Pariser
Die CSU will das Thema AIDS mit in die Koalitionsverhandlungen einbringen. Der Kanzler stimmt zu. Für die Bayern heißt das im Klartext: Meldepflicht und Zwangsmaßnahmen. Ihr federführender AIDS– Experte Gauweiler fordert „das ganze seuchenpolitische Instrumentarium“. Dr. Rita Süssmuth soll nach bayerischem Wunsch das Gesundheitsressort entzogen werden. Pessimistische Beobachter sehen sie schon nach Niedersachsen weggelobt. Rita Süssmuth verprellt mit „Safer–Sex“–Aufklärung die Katholiken.
Nach Jahren hat die Kunde einer allgemein bedrohlichen Krankheit namens AIDS via München auch Bonn erreicht. Die Verbannung des Problems ins verborgene Reich der Risikogruppen, verwaltet von Bundesfamilienministerin Rita Süssmuth, ist aufgehoben. Vor zwei Jahren noch in Ärzteblättern als „Homo– Seuche“ diagnostiziert, hat sich AIDS inzwischen nicht nur in den Boulevardblättern zur „Volksseuche“ gemausert. Und Hochrechnungen über die „Durchseuchung der Bevölkerung“ untermauern die Notwendigkeit der von Bundesgesundheitsministerin Süssmuth geförderten bundesweiten Aufklärungskampagne, die bis in die distinguierte Herrenrunde der Katholischen Bischofskonrenz vorgedrungen ist. Der Berliner Bürger hat die Parole dank der großflächigen Plakataktion des Sozialsenators Ulf Fink längst intus: „AIDS geht alle an.“ „Safer Sex“, vor kurzem noch in der Schwulenszene gehegtes Diskussionsthema, muß zur Schule. Im Unterricht soll vor der Leichtfertigkeit gewarnt und Falschinformation und Hysterie gebremst werden. Die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung erspäht schon „Kondome in aller Munde“, nur der Beitrag der Sozialdemokratie an der AIDS–Debatte beschränkt sich auf den Vorschlag der „kostenlosen Verteilung“ der Präservative. Auch die Fernsehanstalten kommen ihrem öffentlich–rechtlichen Auftrag nach, das einstige Randgruppenthema zum Abendprogramm für alle zu machen. Nach einem einfühlsamen Video über einen AIDS–Kranken in der Nordkette des Dritten Progamms und anschließender Diskussion mit Gesundheitsministerin Rita Süssmuth am Mittwoch nun am Donnerstag abend die „Elefantenrunde“ der AIDS–Experten am runden Readaktionstich des ZDF–Gesundheitsmagazins „Praxis“. 892 AIDS–Fälle gibt es in der Bundesrepublik, legt Frau. Prof. Dr. LAge–Stehr vom Robert– Koch–Institut in Berlin die Statistik des Bundesgesundheitsamts vor. „500 Patienten kamen allein im letzten Jahr dazu. Auf jeden bekannten Kranken“, so die renommierte Virologin, „kommen 30–100 Infizierte.“ „Einige Hochrechnungen überschreiten bereits die Hundertausendergrenze. Die Zählmethode ist natürlich historisch, und einiges kann sich ändern. Aber die Zahl der Erkrankungen steigt im Achtmonatstakt. Selbst wenn wir uns um ein bis zwei Takte irren, kommt fast das gleiche Ergebnis heraus. Und die Majorität der Infizierten stirbt“, ergänzt einer der erfahrensten AIDS–Ärzte der Bundesrepublik, der Frankfurter Internist Prof. Dr. Stille, die Berliner Kollegin: „AIDS wird mehr Tote kosten als der zweite Weltkrieg“, verkündet Dr. Stille, dessen Krankenstation für viele zur Endstation wird. Stille fordert: „Ein Verteidigungsministerium gegen AIDS. Mit dessen finanzieller Ausstattung.“ Aus seiner bisherigen Praxis weiß er nur: „Therapieformen sind schrecklich und dauern lebenslänglich, eine endgültige Elimination der Krankheit ist unmöglich. Das Virus ist uns falsch dargestellt worden. Am Anfang dachten wir, es befällt nur die Lymphozyten.“ Heute weiß er, „es befällt exzessiv chronisch alle Systeme.“ Seine Hoffnung darauf, daß jemals ein therapeutisches Medikament oder ein Impfstoff gefunden wird, ist gedämpft. „Das ist auch ein ökologisches Thema“, so Stille, „der Mensch hat ein biologisches Reservoir angeknapst.“ Die Folgen der Verbreitung des Retrovirus aus Zentralafrika über die Welt sind kaum mehr übersehbar. „AIDS ist eine weltweit schleichende Katastrophe. Unsere Gesellschaft tut sich wie beim Waldsterben schwer, sie zu erkennen.“ Die beiden Wissenschaftler sind sich nicht nur in der Einschätzung der Krankheit einig. Für sie hat ihr Gegenüber am Tisch, CSU– Jurist Dr. Gauweiler (der mit dem Verbot der Bundeskonferenz der Anti–AKW–Gruppen), mit seiner Forderung nach einer Meldepflicht die Diskussion in eine gefährliche Irre geleitet. Unterstützt wird der Münchner Beamte von Prof. Dr. Fösner vom Pettenkofe rinstitut, der schon vor Beginn alle Aufklärungsarbeit für gescheitert erklärt und durch Reihenuntersuchungen der Gesamtbevölkerung, Datengewinn und Meldepflicht Hilfe verspricht. Für Gauweiler gibt es nur eins: „Weg mit den Verharmlosungspropagandisten“. Er will „verläßliche Daten“ und die „Identifizierung der Infektionsherde“, das „klassische Instrumentarium der Seuchenbekämpfung“ und ein „schlüssiges Gesamtkonzept“. Aber das kann der Bayer nicht bieten. „Das ist nicht zu Ende gedacht“, interveniert der aus Kalifornien eingeflogene Sexualwissenschaftler Prof. Haeberle. „Mit ihren Maßnahmen kommt es zur Superkatastrophe.“ Haeberle verweist auf das Modell San Franzisco. Nur durch Aufklärung hät ten dort die einst 17 Prozent Neuinfektionen auf vier gedrosselt werden können. „Die Kranken, die wir heute haben, haben sich vor fünf Jahren infiziert, als man kaum etwas über AIDS wußte.“ Und Frau LAge– Stehr liefert ein positives deutsches Beispiel für den Sinn der Aufklärung, die einen Knick in den apokalyptischen Hochrechnungskurven bescheren könnte. Von 1.000 Personen einer in ihrer Studie erfaßten Risikogruppe waren 50 Prozent infiziert, 40 Prozent haben sich nicht mehr angesteckt, und die zehn Prozent hatten noch in der ersten Hälfte des ersten Jahres der Studie ihre Chance verspielt. Wissen ist Schutz. Doch es brauchte einen aufgeklärten CDU–Sozialpolitiker, den Berliner Senator Ulf Fink, Gauweiler die Leviten zu lesen. „Sie vermitteln eine Sicherheit, die es nicht gibt“, wird der zurückhaltende Brillenträger, durch Gauweilers Provokationen in Rage gebracht, heftig. „Das ist unverantwortlich. Wenn sie für die Meldepflicht eintreten, leisten sie der Ausbreitung der Infektion Vorschub... Sie haben keine Aufklärung betrieben. Sie haben doch in München nichts gemacht. Sie schwadronieren nur herum. Warum wenden sie in Bayern das Seuchengesetz nicht an?“ „Herr Gauweiler, Sie haben der Ausbreitung schon einen Bärendienst erwiesen“, erinnert der Vertreter der deutschen AIDS–Hilfe an Münchner Verhältnisse, wo Kneipiers bei Aufklärungszetteln Lizenzentzug drohte. Kuno Kruse
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