■ Gorbatschow und die Folgen
: Gorbatschows Traktate sind keine Analyse

Ich habe die Rede von Gorbatschow auf dem Januarplenum genau gelesen. Ich muß gestehen, daß für mich die Rede „anstelle der .. wirklichen Analyse der sozialökonomischen und geistigen Prozesse“ ein Traktat ist. Es unterscheidet sich von der Kritik, die Gorbatschow in dieser Rede an den Gesellschaftswissenschaftlern gerade in dieser Beziehung übte, darin, daß in seiner Rede keine Trinksprüche enthalten sind. Gorbatschow sagt etwas, was noch kein Generalsekretär nach Stalin öffentlich sagte: „Die theoretischen Vorstellungen blieben in vielerlei Hinsicht auf dem Niveau der 30–40er Jahre“. Früher hätte ich über einen solchen Satz gejubelt und wäre zu meinem Parteisekretär gelaufen und hätte verlangt, mir endlich recht zu geben und in den Parteilehrjahren die Diskussion von Grundsatzfragen zu erlauben. Heute sehe ich diesen Satz von Gorbatschow aufgehoben, wenn er in der gleichen Rede verkündet: „...das Vermögen (der Partei)...auf der Grundlage der revolutionären Theorie...“, bilde die Garantie, „daß der eingeleitete Umgestaltungsprozeß bis zu Ende geführt wird.“ Ist das die Theorie der 30–40er Jahre? Was ist hier „bis zu Ende“? Geheime Wahlen Auch zu den Wahlen sagt Gorbatschow etwas Neues. Im ZK– Beschluß dieses Januarplenums, des „größten politischen Ereignisses“, wird das zwar etwas abgeschwächt. Es wird von der „Vervollkommnung des sowjetischen Wahlsystems“ und von einer größeren Zahl von Kandidaten, die diskutiert und zur Wahl gestellt werden sollen, gesprochen. Gorbatschow redete von geheimen Wahlen innerhalb der Partei und von mehreren Kandidaten bis in die höchsten Stellen der Partei. Im ZK–Beschluß werden nur die Sowjets erwähnt und was die Partei betrifft, so nur auf den erforderlichen Ausbau der innerparteilichen Demokratie verwiesen. Die Differenzen haben Bedeutung, denn die Aussicht auf eine Lebensstellung ist für die hohen Parteifunktionäre, die Gebiets– und Regionalsekretäre eine entscheidende Antriebskraft. Diese Sekretäre bilden den Hauptstamm der gewählten ZK–Mitglieder und in ihrer Lebensstellung bedroht, können sie eine Gefahr für Gorbatschow werden und ihn, ähnlich wie seinerzeit Chruschtschow, abwählen. Das ist aber ein parteiinternes Problem. In der DDR wird in der Partei und Gewerkschaft geheim gewählt. Es können mehrere Kandidaten aufgestellt werden. Bei uns im Institut wurde 1973 ein Kollege unter Ausnutzung dieses Wahlrechts in die Betriebsgewerkschaftsleitung gewählt, obwohl die Institutsmafia, so nannten die Kollegen das Quartett „technischer Direktor, Parteisekretär, Gewerkschaftsvorsitzender und Abteilungsleiter“, ihn nicht auf der Wahlliste haben wollte. An diesem Wahlausgang hatte ich als Vertrauensmann Anteil, ich kannte die Wahlordnung. Das Ergebnis war ein Parteibeschluß. „Der Wahlverlauf und das Auftreten der Gewerkschaftsgruppe war korrekt und widersprach keinen Gesetzen und Statuten, aber die Wahl zeigte, daß es im Institut zwei Parteien gibt, die SED und die Partei Rolf Schälike. Deswegen wird beschlossen, seine Entlassung aus dem Institut zu erreichen.“ Dank den Prinzipien des demokratischen Zentralismus - Gorbatschow: „... die Erweiterung der Demokratie ... setzt ... die Vertiefung des demokratischen Zentralismus ... voraus“ - wurde ich von der Betriebsgewerkschaftsleitung als Vertrauensmann abgesetzt, dann wirkten die üblichen Machtstrukturen, - denn über die für jeden Kollegen wichtigen Fragen wie die des Gehalts, der Urlaubszeit, einer Freistellung während der Arbeitszeit, die Arbeitsaufgaben und anderes mehr, entscheidet die Institutsleitung. Es gilt das Prinzip der Einzelleitung, es gibt die Kaderakten, zentrale Anweisungen. Dagegen gibt es keine Machtorgane für die Werktätigen. Eine Änderung des Wahlsystems bedeutet daher noch nicht ohne weiteres Veränderungen für den Werktätigen, für die Menschen in der Sowjetunion. Die Gewerkschaften Es scheint auch nicht so, daß den Gewerkschaften, für die ein neues Statut vorbereitet wird und breit diskutiert werden soll, diese Rolle der demokratischen Machtorgane zugedacht ist. Im Politbürobeschluß vom 29. Januar 1987 heißt es: „Die vorgeschlagenen (Statut)änderungen sind auf die Weiterentwicklung der innergewerkschaftlichen Demokratie bei der Lösung der Aufgaben, die sich bei der Beschleunigung und Umgestaltung ergeben, gerichtet.“ Die Gewerkschaften bleiben das berühmte Kettenglied zwischen der Partei und den werktätigen Massen. Ich fand auch nichts über die Rechte bei Streiks, bei der Lösung grundsätzlicher Differenzen mit der Partei und der Regierung, nichts von Solidarnosc, deren Aktivitäten bei den sowjetischen Arbeitern, sofern sie davon erfuhren, auf Interesse und Widerhall stießen. Gorbatschow ist ein Kind seines Landes, der Partei, ein hoher Parteifunktionär, er ist gebildet. Reicht das aus, um die propagierte Wende in der Sowjetunion zu erwarten? Gorbatschow ist Vertreter der Partei, die Macht hat und diese auch nicht abgeben will. Rolle der Partei Er spricht von der „avantgardistischen Rolle der Kommunisten in der Praxis“. Wenn es um neue demokratische Institutionen geht, dann sagt er zu seiner Funktion als Cheforganisator: „Es werden neue gesellschaftliche Organisationen gegründet“, und nicht etwa „Wir werden einer Gründung neuer gesellschaftlicher Organisationen nichts in den Weg legen.“ Er nennt mit keinem Wort die verbotenen unabhängigen Gewerkschaften SMOT, die vernichteten Helsinki–Gruppen oder die verfolgte Vertrauensgruppe in Moskau, die offiziell nicht existieren darf. Unabhängige Gruppen, so auch solche, die sich als Grüne verstehen, schweben in Moskau immer noch zwischen Vereinnahmung, Verbot und Verfolgung. Gorbatschow sagt auch: „Die Initiative und das Schöpfertum des Volkes können wir dann tatsächlich verstärken ...“, er sagt nicht „Alle gesellschaftlichen Initiativen unserer Menschen werden nicht mehr gebremst.“ Er organisiert von oben, auch die „konsequente Entwicklung der demokratischen Formen ... für die Gewährleistung einer bewußten Disziplin.“ Die nationale Frage Gorbatschow erklärt „jeglicher Erscheinung nationaler Borniertheit und Großtuerei“, dem „Nationalismus und Chauvi Rede. Im ZK–Beschluß wird diesen Erscheinungen „kompromißlose Abfuhr erteilt“, obwohl zugestanden wird, daß „unsere Theorie ... gegenüber der Praxis in den nationalen Beziehungen ... einen großen Rückstand hat.“ So geht es nicht weiter Wer entscheidet aber, was Weiterentwicklung der Theorie, was neue Herangehensweisen und was Nationalismus, dem der proletarische Internationalismus entgegengesetzt wird, sind? Gorbatschow und mit ihm (aber auch vor ihm) haben viele Kommunisten in der Sowjetunion erkannt, so geht es nicht weiter! Der technologische Rückstand wird zu groß, die sowjetische Gesellschaft versinkt in Alkoholmißbrauch, Drogensucht, Veruntreuung, Korruption, Amtsmißbrauch, Protektionismus, Kriminalität, verbrecherische Verantwortungslosigkeit (alles Gorbatschow), die Macht ist gefährdet. Gorbatschow versucht es mit der Kaderpolitik, mit neuen Gesetzen wie dem Gesetz über die Betriebe, der Einführung der Selbstverwaltung, einem neuen Strafgesetzbuch, mehr Demokratie, Vervollkommung, Verbesserung, Umgestaltung, Verände rung, Beschleunigung und Umschwung in allen Lebenssphären. Das sind alles Richtlinien von oben, die auf Widerstand stoßen, von Vertretern der alten Politik, auf Widerstand auch derjenigen stoßen, die objektiv an Veränderungen, an revolutionären Umgestaltungen interessiert sein müßten. Das Volk machte zuviele negative Erfahrungen, zu wenig Erfahrung in der Eigenständigkeit, in Demokratie. Gorbatschow verlangt bewußt Disziplin, Veränderungen im Geist und Denken, in der Einstellung der Menschen, Organisiertheit, Kritik und Selbstkritik, Überzeugtheit, Arbeitselan, sowjetischen Patriotismus, Prinzipienfestigkeit. Er bekämpft die Welle des Konsumdenkens, Trägheit und Dogmatismus, Hast und Spontaneität. Ich bin unter Stalin erzogen worden. Bewußte Disziplin, Veränderungen im Geist und Denken, Kritik und Selbstkritik, Prinzipienfestigkeit und viele andere Forderungen, die Gorbatschow heute „neu“ formuliert, waren Eckpfeiler meiner Erziehung. Sie waren engstirnig und in ihrer Gesamtheit für Millionen tödlich. Die Machtorgane KGB und Armee sind auf der Hut Bezeichnend. Wenn anscheinend alle und alles kritisiert wird, zwei wichtige Institutionen bleiben in der Rede verschont. Das sind der KGB und die Armee. Sie werden sogar gelobt. Kritisiert werden leitende Kader im Ministerium des Innern, d.h. leitende Kader der sowjetischen Miliz (Polizei), von denen sogar einige zu „Organisatoren verbrecherischer Handlungen wurden“. Das sind harte Worte, betreffen aber nicht den KGB. So wird wahrscheinlich „Der Gorkipark“ immer noch ein verbotenes Buch bleiben und Hetze bedeuten, für die in der DDR ein Freund von mir 1984 zu sechs Jahren Haft verurteilt wurde. Auch die Justizorgane werden kritisiert. Das ZK hat einen Beschluß „Über die weitere Festlegung der sozialistischen Gesetzlichkeit und Rechtsordnung und die Stärkung des Schutzes der Rechte und legitimen Interessen der Bürger“ gefaßt. In der Literaturnaja gazeta vom 21.1.87 wurde eine Diskussion auf einer ganzen Seite kommentiert. Die Justiz als Bremse des Fortschritts, Amtsmißbrauch, Verurteilung Unschuldiger, die im Lager sterben, und andere heikle, sehr aktu elle Fälle und Themen waren Gegenstand dieser Diskussion. Gegen Verwaltungen soll in Zukunft geklagt werden können, zwar gewährleistet die sowjetische Verfassung auch schon heute dieses Recht, doch fehlen die gesetzlichen Entsprechungen. Wie sich die DDR bis 1969 trotz dieses Gesetzes entwickelte, weiß jeder. Revolutionäre Umgestaltungen? Beim besten Willen kann ich nicht erkennen, was sich in der Sowjetunion wesentlich geändert hat. Worauf die Hoffnungen basieren, worin die „revolutionären Umgestaltungen“ bestehen. Darin, daß dem übermäßigen Alkoholkonsum der Kampf angesagt ist? Oder, daß endlich über einen Teil des Sowjetlebens öffentlich so gesprochen werden darf, wie es ist, wie man darüber denkt, ohne gleich eingesperrt zu werden oder berufliche und andere Schwierigkeiten zu bekommen. Es darf nur über einen Teil, einen kleinen Teil des Sowjetlebens, über negative Erscheinungen öffentlich Kritik geübt werden und das auch nur von bestimmten Leuten in bestimmtem Rahmen. Öffentliche Systemkritik, Kritik an der Armee, an den Sicherheitsorganen. Diskussionen über Pluralismus (Mehrparteiensystem), über das Informationsmonopol der Partei und des Staates, um nur einige Beispiele zu nennen, werden nach wie vor bekämpft. Basieren die Hoffnungen etwa auf der Zulassung privater Gaststätten? Jeder, der die Sowjetunion gut kennt, weiß, daß in der Sowjetunion die Privatwirtschaft, die offizielle und die Schattenwirtschaft, immer existieren. Privatpersonen oder private Brigaden durften Verträge mit den Kolchosen eingehen und Bauobjekte nach einem vereinbarten Objektpreis übernehmen. Im Kaukasus traf ich Viehbesitzer mit Tausenden von Schafen, die im Sommer ganze Täler von den Sowchosen oder Kolchosen mieteten, von dem Verkauf von Wolle, Jungtieren, Fellen und Fleisch lebten und Hirten zu Hungerpreisen anstellten. Die Privatmärkte, die einen großen Teil der Lebensmittelversorgung in der Sowjetunion übernehmen, und auf denen die Preise durch Angebot und Nachfrage bestimmt werden, sind aus dem Sowjetleben nicht wegzudenken. Unter Gorbatschow wird die Schattenwirtschaft teilweise legalisiert, aber der größere Teil härter bekämpft als früher. Über die Selbständigkeit der Betriebe, die eigenständige Außenhandelstätigkeit, die Arbeiterselbstverwaltung, die Möglichkeit, mit ausländischen Firmen gemeinsame Betriebe zu betreiben, wird viel gesprochen und geschrieben. Die Praxis sieht anders aus. Gemeinsame Betriebe gab es schon mal, in den 20er Jahren, als Stalin seine Macht aufbaute. Etwas prinzipiell Wesentliches kann ich auch nicht in der Tatsache, daß westliche Journalisten das erstemal sibirische Dörfer besuchen durften, erkennen. Interessant fand ich die Mitteilung, daß die Modezeitschrift Burda auf russisch erscheint. Vielleicht hat Frau Gorbatschowa dazu geraten? Das wäre aber Protektionismus, dem der Kampf angesagt ist. In Moskau war ich an stundenlangen Diskussionen mit dem Außenminister Schewardnadse, dem ZK–Sekretär für internationale Beziehungen Dobrynin, dem Parteichef von Moskau Elzin, dem Chefredakteur des Kommunist Frolow und anderen Gorbatschow nahe stehenden Funktionären beteiligt. Auch theoretische Fragen des Sozialismus, der Demokratie, der Menschenrechte, der internationalen Beziehungen wurden diskutiert. Mehr als in der Rede von Gorbatschow steht, kriegten wir auch nicht zu hören. Die Erfassung der Situation hat bei Gorbatschow und seinen Mitarbeitern den Stand seiner Reden und der entsprechenden Beschlüsse. Handeln, handeln und nochmals handeln Die Losung von Gorbatschow ist „Handeln, handeln und nochmals handeln - aktiv, kühn, schöpferisch und kompetent“. Aber wer entscheidet, was aktiv, was schöpferisch, was kompetent ist? Kompetenz kann mit Dogmatismus, Aktivität mit Spontaneität, Beharrlichkeit mit Trägheit diskreditiert werden. Ich sehe keine Mechanismen und Vorschläge, die das regeln. Von Moskauer Freunden erfuhr ich, daß in den Betrieben ein gegenseitiges Beschuldigen, Verunsicherung und Streit herrschen. Niemand weiß, wer recht und wer unrecht hat, wie es weitergehen wird, was erlaubt und was nicht erlaubt ist. Welche Gesetze sind veraltet und änderungsbedürftig, welche müssen aus Prinzipienfestigkeit in Kraft bleiben? Aufrufe an den gesunden Menschenverstand, die ich in den Zeitungen lese, lösen die Probleme auch nicht, denn zwei gesunde Menschen haben oft unterschiedliche Ansichten und unterschiedlich gesunden Menschenverstand. Es bewegt sich was In der Sowjetunion bewegt sich etwas. Wenn auch langsam. Praktisch hat sich in den letzten zwei Jahren so gut wie nichts geändert, das höre ich von jedem Sowjetbürger. Betroffen machte mich die Tatsache, daß über Gorbatschow in Moskau gelacht wird, daß er z.B. als „alkoholfreier Quasselfusel“ bezeichnet wird. Das erinnerte mich an den Beginn der sechziger Jahre, als in den sowjetischen Kinos, wenn in der Vorschau Chruschtschow erschien, der Saal hämisch lachte. Wir in der DDR waren von Chruschtschow begeistert und argumentierten mit seinen Reden. Es wurde aber weiter gerüstet, weiter gechlampt, weiter verhaftet, weiter entwürdigt und es fehlten Brot und Milch. Trotzdem entwickelte sich die Sowjetunion, den Menschen ging es besser, es gibt mehr Wohnungen, die Industrie wächst, die Militärmacht auch, es hungert so gut wie niemand. „Das Fehlen von konkreten Erfahrungen kann durch nichts ersetzt werden“, sagt Gorbatschow auf dem Plenum. Ich muß ihm beipflichten und möchte ergänzen: Ergebnisse von Auseinandersetzungen und Kämpfen können nicht vorausgesagt werden. Widersprüche müssen reifen und ausgetragen werden. Dafür bedarf es Voraussetzungen, sonst kommen sie an sehr unerwarteten Stellen zum Vorschein. Die Geschichte läßt sich nicht überlisten. Was Gorbatschow schafft, das sind bestenfalls die ersten Voraussetzungen. Die von Gorbatschow gesetzten Rahmenbedingungen reichen jedoch für die Lösung der erkannten und anstehenden Probleme nicht aus. Trotzdem bietet sich dem sowjetischen Volk eine Chance. Es ist auch eine Chance für die Menschen im Westen.