I N T E R V I E W „Die 35–Stunden–Woche bleibt das zentrale Ziel“

■ Klaus Lang, Leiter der Abteilung Tarifpolitik der IG Metall, zur aktuellen Tarifauseinandersetzung und den Forderungen der Gewerkschaft

taz: Die IG Metall fordert wie auch schon 1984 die 35–Stunden–Woche. Hat sie sich nicht weiterentwickelt? Lang: Wir haben ja die 35–Stunden–Woche nicht erst 1984 gefordert. Sie war schon Thema eines Arbeitskampfes in der Eisen– und Stahlindustrie 1978/79. Unsere Gründe für die 35–Stunden–Woche sind noch gewichtiger geworden. Sie bleibt daher das zentrale arbeitszeitpolitische Ziel. Darum haben wir sie auch in diesem Jahr noch einmal zum Gegenstand der aktuellen Tarifauseinandersetzung gemacht. 1984 wurde von der IGM das arbeitsmarktpolitische Argument besonders betont. Hat sich in der Begründung der Forderung seitdem eine Verschiebung ergeben? Angesichts der aktuellen und der vorausschaubaren Arbeitsmarktsituation hat das Ziel, Arbeitsplätze zu sichern und zu schaffen, wiederum einen ganz hohen Stellenwert. Gerade jetzt, wo die bis zur Bundestagswahl ausgegebenen Konjunkturprognosen zusammenbrechen, wird ja deutlich, wie wichtig eigentlich Arbeitszeitverkürzungen zur Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen sind. Aber gleichzeitig hat der Freizeitwert einer Arbeitszeitverkürzung durch die Erfahrungen mit der 38,5–Stunden–Woche deutlich zugenommen. Vor drei Jahren haben die Mitglieder mehr aus Solidarität zur IG Metall gekämpft als aus Überzeugung für die Arbeitszeitverkürzung. Hat die Einführung der 38,5–Stunden–Woche 1985 einen Meinungswandel bewirkt? Das ist uneingeschränkt zu bejahen. Durch die Erfahrung mit der 38,5–Stunden–Woche sind wirklich Berge von Arbeitgeberpropaganda, die 1983/84 aufgetürmt worden sind, zusammengestürzt. Kein Kollege und keine Kollegin hat jetzt noch die Befürchtung, man würde durch Arbeitszeitverkürzung etwa die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft gefährden, Betriebe in den Ruin treiben, Arbeitsplätze im fernen Osten schaffen oder was immer an Schauermärchen damals von den Arbeitgebern verbreitet worden ist. Durch die Erfahrungen mit der 38,5–Stunden–Woche ist klar: Die Arbeitszeitverkürzung bringt was für den einzelnen Beschäftigten in Form von mehr Freizeit und für die Gesellschaft in Form von mehr Arbeitsplätzen. Die Arbeitgeber haben jetzt einen ganz umfangreichen Flexibilisierungskatalog für die Arbeitszeiten gefordert. Der wird von der IG Metall strikt abgelehnt. Warum gibt es keine eigenen Vorstellungen der IGM zur Flexibilisierung? Wir mußten 1984 eine gewisse Flexibilisierung hinnehmen, die wir in den Betrieben eingrenzen konnten, die uns aber nicht geschmeckt hat. Was die Arbeitgeber jetzt vorlegen, ist von anderer Qualität. Es geht mit ihren jetzigen Forderungen um die totale Zerstörung einer tarifvertraglichen Zeitordnung, um die Beseitigung jeglichen Interessensausgleichs in der Arbeitszeitfrage, sei es auf tariflicher, sei es auf betrieblicher Ebene. Es wird in einer unüberbietbar knappen und klaren Sprache gesagt, daß bei allen Arbeitszeitfragen die betrieblichen Erfordernisse Vorrang haben. Hierbei geht es darum, in der Arbeitszeitfrage den Herr–im–Hause–Standpunkt klar durchzusetzen. Wir haben inzwischen eigenständige Vorstellungen zur flexiblen Gestaltung der Arbeitszeit, zur Wahlmöglichkeit im Interesse der Beschäftigten entwickelt. Und mit uns kann man über alles reden, was wirklich die Möglichkeiten der Menschen, über ihre Arbeitszeit zu verfügen, vergrößert. Vor diesem Hintergrund sind die Flexi–Vorstellungen der Arbeitgeber in ihrer total anderen Grundrichtung leicht zu entlarven. Ihr habt für Flexibilisierung Grenzen formuliert. Aber ihr habt noch nicht positiv formuliert, welche Rechte die einzelnen Beschäftigten haben sollen, innerhalb dieser Grenzen ihre Wahl zu treffen. Das haben wir sehr wohl. Der einzelne Beschäftigte soll zum Beispiel zwischen verschiedenen Formen der Arbeitszeitverkürzung wählen können. Dennoch sind wir da möglicherweise noch am Anfang der Diskussion. Aber jetzt geht es zunächst einmal um die Durchsetzung des Prinzips: Wenn man flexible Gestaltungsmöglichkeiten hat, wer hat dann letzten Endes das Sagen darüber, wie das ausgefüllt wird. Die IG Metall hat 1984 nur mit Mühe dem Druck der kalt Ausgesperrten standhalten können. Inzwischen ist durch die Veränderung des Paragraphen 116 Arbeitsförderungsgesetz dafür gesorgt, daß es definitiv keine Unterstützung vom Arbeitsamt mit den kalt Ausgesperrten geben wird. Woher nimmst Du den Optimismus, daß ihr diesem Druck jetzt unter verschlechterten Bedingungen besser standhalten könnt? Ob es uns gelingen wird, die Auseinandersetzung so zu politisieren und die Belegschaften so zu mobilisieren, daß wir im Ernstfall auch in der Lage sind, Solidarität mit kalt Ausgesperrten auf einer breiten Basis zu entwickeln, weiß ich heute nicht. Aber wir haben letzten Endes keine andere Wahl, wenn wir nicht die 35–Stunden–Woche in den Wind schreiben und kampflos kapitulieren wollen. Deshalb geht es jetzt darum, die Voraussetzungen für solche kollektive Mobilisierung zu schaffen. Das machen wir zur Zeit durch Warnstreiks. Das machen wir durch die Kampagne zur Ächtung der Aussperrung gemeinsam mit allen Gewerkschaften im Deutschen Gewerkschaftsbund. Das machen wir dadurch, daß wir versuchen, in den Betrieben und in der gesamten Gesellschaft ein Netzwerk der Solidarität und Abwehr gegen Aussperrung zu errichten. Wenn es zum Streik kommt, wird auch ausgesperrt. Das ist klar. Dennoch lehnt die IG Metall es deutlich ab, durch Betriebsbesetzung, durch Verbleiben am Arbeitsplatz sich gegen Aussperrung zu wehren. Wir sind in einer völlig anderen Situation als z.B. die IG Druck und Papier. Was kann denn mit einem Verbleiben im Betrieb erreicht werden? Es kann das Ziel sein, daß die Betroffenen Geld bekommen. Das aber ist nachweisbar mit dieser Methode nicht erreichbar. Es kann zweitens das Ziel sein, daß man die Produktion stört. Das ist im Bereich der Metallindustrie schon mit dem Verlassen des Betriebes gegeben. Und es kann drittens angestrebt werden, daß ein größeres politisches Bewußtsein entsteht. Es gibt genügend andere Möglichkeiten für unseren Bereich, politisches Bewußtsein zu organisieren, politisches Bewußtsein herzustellen. Für die IG Druck, wo das Ziel eines Streiks, die Produktionsstörung, mit dem Verlassen des Betriebes häufig nicht erreicht werden kann, stellt sich diese Frage ganz anders. Das Interview führte Martin Kempe