„Die Partei muß auch vergessen können“

■ In Bonn diskutierten auf Einladung der SPD 15 Historiker aus BRD und DDR über Weimar, Nationalsozialismus, Geschichtsbewußtsein und Reichsgründung / Einige Gemeinsamkeiten und viele Kontroversen auf dem zweitägigen Forum „Erben Deutscher Geschichte“

Aus Bonn Oliver Tolmein

„Die Partei als Partei schreibt in unserem Verständnis keine Geschichte. Die Partei als Partei muß sich nicht nur erinnern, sie muss auch vergessen können; der Wissenschaft wird das zweite nicht gestattet.“ Daß entgegen diesem Diktum von Willy Brandt auch „unabhängige“ Historiker „vergessen“ und wesentliche historische Momente aus ihren Betrachtungen ausblenden, erfuhr, wer zwei Tage lang am Forum „Erben Deutscher Geschichte“ teilnahm: Die Sozialistengesetze, die Rolle Noskes in der Weimarer Republik und die Sozialfaschismus–These der KPD blieben in den Diskussionen über deutsche Geschichte der letzten 150 Jahre fast gänzlich undiskutiert. Veranstalter des Forums war die Historische Kommission beim SPD–Parteivorstand. Geladen hatte sie 16 prominente, fast ausschließlich männliche, Historiker aus der BRD und DDR. Das Erich– Ollenhauer–Haus platzte fast aus allen Nähten: Mit einem so großen öffentlichen Interesse hatte wohl kaum jemand gerechnet. Die Themen der Podiumsrunden „Geschichtsbewußtsein in der DDR und der Bundesrepublik“, „Reichsgründung - Revolution von oben?“ und „Chancen und Scheitern der Weimarer Republik“ ließen vermuten, daß auch der bundesdeutsche Historikerstreit angesprochen werden würde - aus dem konservativen Historikerlager war allerdings niemand eingeladen. Das war schade, weil gerade an der Auseinandersetzung über „Geschichtsbewußtsein“ die Konfrontation der DDR–Position mit der Konservativer vom Schlage eines Michael Stürmer interessant gewesen wäre. So konnte Bernd Faulenbach von der Ruhruniversität Bochum dem Direktor des Zentralinstituts für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR zwar vorhalten, sein Postulat, die Geschichtswissenschaft müsse sich an gesellschaftlichen Bedürfnissen orientieren und habe eine identitätsstiftende Funktion, erinnere ihn an Michael Stürmers und Ernst Noltes Position in der BRD. Zu einer wirklichen Auseinandersetzung über das Gemeinsame oder die Unterschiede dieser Vorstellungen kam es allerdings nicht. Dabei war das Podium „Geschichtsbewußtsein“ noch das Lebendigste, am wenigsten akademische der drei. Jürgen Kocka von der Universität Bielefeld eröffnete die Auseinandersetzung mit einem Rundumschlag gegen die DDR–Historiker, deren Arbeit durch die „Pflicht zur Parteilichkeit“ und durch „ein relativ geschlossenes Geschichtsbild mit teleologischen Zügen“ bestimmt sei, während in der BRD Pluralismus herrsche. Am Beispiel der NS–Diktatur und ihrer Einordnung in die deutsche Geschichte versuchte Kocka die Konsequenzen aus dieser Differenz zu zeigen: Zwar gebe es auch in der DDR eine Tendenz, die Widersprüchlichkeit des „historischen Erbes“ aufzuschließen, sehr viel stärker allerdings sei die Tendenz, den Anteil des Volkes am deutschen Faschismus gering zu bewerten, diesen nach wie vor mit den Begrifflichkeiten der „Agenten–Theorie“ zu fassen. Walter Schmidt, aber auch Gustav Seeber vom Zentralinstitut für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR widersprachen dem vehement: Kocka habe offensichtlich eine ziemlich „verkorkste Vorstellung von der DDR–Geschichtswissenschaft“. Die groß aufgebaute Agententheorie sei lediglich ein Pappkamerad, die Faschismustheorie Dimitrovs sei bei allen Unzulänglichkeiten ein theoretischer Fortschritt gegenüber früheren Definitionsversuchen - das mache auch ihren heutigen Wert aus - tatsächlich sei die im Gegensatz zur BRD in der DDR bereits 1946 begonnene gründliche wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem deutschen Faschismus im Westen kaum öffentlich wahrgenommen worden. Wenn Kocka davon rede, daß der Nationalsozialismus „tief im deutschen Volk verwurzelt“ gewesen sei, dann gelte es, die Ursachen dafür zu erforschen. Die Rolle der Volksmassen untersuchen heiße auch, die Rolle derer zu untersuchen, die Einfluß auf diese gehabt haben. Der Vorwurf, die DDR–Geschichtswissenschaft sei geradezu uniform, wurde mit Verweis auf Auseinandersetzungen innerhalb der DDR–Geschichtswissenschaft beispielsweise über die Bewertung der Reichsgründung durch Bismarck nicht akzeptiert. Außerdem besteche die öffentlich in den Schulbüchern oder im Fernsehen vermittelte BRD–Geschichtssicht nicht gerade durch pluralistische Sichtweisen. Der Unterschied allerdings sei, daß man sich in der DDR der gesellschaftlichen Verantwortung und dem Fortschritt verpflichtet fühle. Kategorien, die sofort auf den Widerspruch Kockas stießen, der gerade die eindeutigen Unterscheidungsmöglichkeiten von „Fortschritt“ und „Reaktion“ in Frage gestellt sieht. Wesentlich Neues bekam man auch am Freitag auf dem „Weimar“–Podium kaum zu hören. Allerdings hatte die Zusammensetzung auch dieses Podiums und die Unvermitteltheit, mit der die Kontroverse geführt werden konnte, Raritätencharakter. Dort kreiste die Auseinandersetzung zwischen Hans Mommsen vom Wissenschaftskolleg Westberlin und den DDR–Wissenschaftlern Manfred Weißbecker und Kurt Gossweiler vor allem um die Frage, warum Weimar nicht früher als 1933 endgültig gescheitert sei und ob ein Aufstand der gesamten Arbeiterschaft noch eine Chance gehabt hätte, den Nationalsozialismus zu verhindern.