Kohl: Die Lage war noch nie so rosig

■ Der Kanzler gibt eine wolkige Regierungserklärung ab / Motto: „Die Schöpfung bewahren, die Zukunft gewinnen“ / Vogel (SPD) kritisiert Sozialpolitik / Schoppe (Grüne) verteidigt Volkszählungsboykott

Aus Bonn Oliver Tolmein– In seiner zweieinhalbstündigen Regierungserklärung, die „Die Schöpfung bewahren - die Zukunft gewinnen“ überschrieben war, stellte Bundeskanzler Kohl gestern die „Werte jenseits von Angebot und Nachfrage“ in den Mittelpunkt. Angesichts des allgemeinen Wohlstandes, so Kohl, strebten die Menschen verstärkt nach imateriellen Werten, die wesentlich durch „Christentum und Aufklärung“ geprägt seien. Es gelte, „menschliche Geborgenheit“ wachsen zu lassen, Solidarität mit „den Kindern, den Müttern und den Familien“ zu üben. Der besondere Schutz, der dem „ungeborenen Leben“ zuteil werden müsse, dürfte ebensowenig fehlen wie die Drohung gegen diejenigen, die Aids „ohne Rücksicht auf andere verbreiten“. Die Politik könne zwar weder das „Lebensglück“ herstellen noch „der Sinnfindung“ dienen - aber: „Wir wollen das Wertebewußtsein schärfen, insbesondere den Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung“. In diesem Kontext beschäftigte sich Kohl mit der „Inneren Sicherheit“ und griff, ohne sie direkt beim Namen zu nennen, die Grünen an: „Wer durch die Art seines Protestes Gewalttaten fördert, trägt Mitverantwortung für die Folgen“. „Heimat muß erfahrbar sein“, das „gemeinsame Erbe der deutschen Nation“ müsse gepflegt und nach „Freiheit für alle Deutschen gestrebt“ werden, waren andere Leitsätze von Kohls Rede, die er Seite für Seite - insgesamt waren es 37 - vom Blatt ablas. So vehement sich Kohl für die Einheit Deutschlands aussprach, so schweigsam blieb er, was die Ostverträge anging: kein Wort über deren Bindungswirkung. Stattdessen das Bekenntnis: „Wir werden uns nichts abhandeln lassen, was unser Ziel gefährdet, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbsbestimmung seine Einheit wiederer langt.“ Das Ost–West–Verhältnis beschäftigte Kohl dann wieder am Ende seines Manuskripts. Er würdigte das „neue Denken“ Gorbatschows. Kriterium für „echte Fortschritte“ in den Ost–West–Beziehungen könne aber nur die Lage der Menschen „in unserem geteilten Volk und Kontinent“ sein. Die Positionen die Kohl zur Abrüstung vortrug, bewegten sich im CDU–üblichen Rahmen: Ja zur Null–Lösung, wie sie in Reykjavik in Aussicht genommen wurde, aber „Sorge über die drückende sowjetische Überlegenheit bei den Mittelstreckenwaffen kürzerer Reichweite“ und über die angebliche konventionelle Überlegenheit des Warschauer Paktes. Fortsetzung auf Seite 2 Kommentar auf Seite 4 Für seine deutschlandpolitischen Ausführungen bekam Kohl prompt Beifall vom Bund der Ver triebenen. SPD–Fraktionschef Hans Jochen Vogel kritisierte vor allem Kohls Ausführungen zur arbeits– und sozialpolitischen Situation, nutzte seine einstündige redezeit aber auch zu einigen Ausfällen gegen die Grünen. Die Befwürwortung von Gewalt gegen Sachen stellte er auf eine Stufe mit dem Aufruf der Grünen zunm Volkszählunsboykott, begrüßte aber, daß es bei den Grünen auch „nachdenkliche Politiker“ wie Otto Schily gäbe, die mit dem Kurs ihrer partei nicht einverstanden wären. Die drei Milionen Stimmen für die Grünen werte Vogel in seiner Rede vor allem als „Mahnung“ an die anderen Parteien. Vogel nahm die Situation in Hattingen zum Anlaß Kohl vorzuwerfen, er verharmlose die Massenarbeitslosigkeit in diesem Lande auf unerträgliche Weise.Rezepte habe er jedenfalls keine anzubieten. Auch in der Außenpolitik, das habe Kohl in seiner Regierungserklärung gezeigt, entscheide er sich weder für Strauß harten noch für Genschers weichen Kurs. Waltraud Schoppe, deren Rede bei Redaktionsschluß andauerte, nutzte sie, um auf den Volkszählungsboykott einzugehen, ohne allerdings selbst einen klaren Boykottaufruf zu tätigen: Die Boykottbewegung sei ein verlangn „nach mehr Demokratie für uns alle“. Den Wahlerfolg der Grünen führte sie auf „die Krise des Gesellschaftsmodells eines hemmungslosen Industrialismus“ zurück. Mit Blick auf Kohls abrüstungspolitische Vorstellungen forderte Waltraud Schoppe den Kanzler auf „aus der abstrusen Logik der Abschreckung auszubrechen - wofür sie die volle Unterstützung der Friedensbewegung und meiner Partei haben“.