: Groß–Chemie: Betriebsrat als Handlanger des Managements?
■ Betriebsratswahlen 87: 15 Millionen abhängige Beschäftigte bestimmen ihre Interessenvertreter / Chemische Industrie setzt auf Sozialpartnerschaft / Oppositionelle Listen formieren sich gegen Betriebsratsoligarchie Kaum sind die Bundestagswahlen vorbei, steht für 15 Millionen Arbeitnehmer in der Bundesrepublik erneut ein Urnengang an, der für ihren Arbeitsalltag womöglich eine größere Bedeutung hat als die Entscheidung über die Zusammensetzung des Bonner Parlaments: Die Betriebsratswahlen. Unter dn derzeitigen gesetzlichen Bedingungen könnten es die letzten sein, denn die Bonner Koalitionsfraktionen haben beschlossen, durch Veränderung des Betriebsverfassungsgesetzes die bisher bestehende einheitliche Vertretung aller Arbeitnehmer im Betrieb, den Betriebsrat, zu schwächen. Zunächst soll neben dem Betriebsrat ein Sprecherausschuß für die leitenden Angestellten eingerichtet werden. Außerdem sollen Minderheiten innerhalb des Betriebsrates paritätisch an Betriebsratsausschüssen beteiligt werde, eine Regelung, die sowohl firmenhörigen Spaltergruppen als auch progressiv–oppositionellen Beschäftigtengruppen zugute käme. Den Gewerkschaften sind die Betriebsratswahlen ein wichtiger Gradmesser für ihre Verankerung im Betrieb. In vielen Großbetrieben haben sich in den letzten Jahren oppositionelle Listen gegen allzu selbstherrliche Betriebsratsfürstentümer etabliert. Häufig in Übereinstimmung mit der offiziellen gewerkschaftlichen Programmatik sind diese Gruppen mit den bestehenden gewerkschftlichen Strukturen vor Ort zusammengestoßen. Die taz bietet einen Überblick über die Betriebsratswahlen 1987. Heute zunächst aus der Chemie–Industrie, morgen aus dem Metallbereich.
Der Betriebsrat in der chemischen Industrie ist „Abstimmungs– und Gesprächspartner der Firmenleitung.“ Er trennt „Vernünftiges von Unvernünftigem“ und geht „mit Augenmaß in ein Gespräch mit dem Arbeitgeber“. Er fühlt sich weder an die Beschlüsse der Betriebsversammlung noch die der Gewerkschaft gebunden. Er ist nur seinem Gewissen und dem Betrieb verpflichtet. Vor Entscheidungen sollte der Betriebsrat „stets zwei Filter“ schalten: „Erstens die Frage nach der betrieblichen Relevanz und zweitens den Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen den Betriebspartnern.“ Eine gemeinsame Informationspolitik soll verhindern helfen, daß „menschliche und politische Außenseiter in der Betriebsmannschaft Unsicherheiten nutzen und negative Stimmungen schüren“ können. Diese goldenen Regeln der Sozialpartnerschaft sind in einem Leitfaden enthalten, den der IG– Chemie–Betriebsratsvorsitzende Unger aus dem Bayer–Werk in Dormagen zusammen mit dem Personalleiter Klein unter dem Titel „Kooperation statt Konfrontation“ verfaßt hat und in dem sie aufgrund „selbsterfahrener, vertrauensvoller Zusammenarbeit“ darlegen wollen, „wie ein Miteinander ohne Konfrontation im Unternehmen möglich ist.“ Was die beiden Sozialpartner aus Dormagen niedergelegt haben, drückt ein weitverbreitetes Selbstverständnis der Betriebsräte in der Chemischen Industrie und auch ihrer Gewerkschaft, der IG Chemie, aus. Mauschelpolitik der „Betriebsratsfürsten“ Wenige Großkonzerne geben in der Chemischen Industrie den Ton an: Drei Viertel aller Beschäftigten arbeiten bei Hoechst, Bayer, BASF, Henkel, Hüls, Boehringer, Merck oder Schering. Wie in keinem anderen Industriezweig ist es dort gelungen, die Betriebsräte zu Sozialabteilungen des Managements umzufunktionieren. Materielle Grundlage der Betriebspartnerschaft sind hohe übertarifliche Zulagen, innerbetriebliche Aufstiegsmöglichkeiten und sozialpolitische Sonderleistungen, über die das Management mit dem Betriebsrat verhandelt. Daraus resultiert sein Image in der Belegschaft; die relative Sicherheit der Arbeitsplätze trägt ein übriges zur weitverbreiteten Gleichgültigkeit gegenüber einer härteren Interessenvertretung bei. Hauptverlierer ist bei diesem Spiel die Gewerkschaft. Ihre Funktion verblaßt, weil sie tarifpolitisch immer nur nachvollziehen kann, was ihr aus den Großbetrieben vorgegeben wurde. Dennoch sind die Gewerkschaften auf die Betriebsräte angewiesen: Ohne sie kein Zugang zu den Betrieben, keine Aufsichtsratsmandate für externe Gewerkschaftsvertreter, keine Informationen, keine Mitgliederwerbung. Gerade in puncto Mitgliederwerbung reißen sich die Be triebsräte allerdings keine Beine aus. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad in den Großbetrieben ist extrem niedrig; er pendelt etwa bei Hoechst und Bayer um 30 Prozent, bei Schering in Berlin beträgt er lediglich 25 Prozent. Die IG Chemie, das ist kein Geheimnis, gilt in der Chemischen Industrie als streikunfähig. Gleichwohl hat die Gewerkschaft, als sich in den 70er Jahren eine innergewerkschaftliche Opposition gegen die „Mauschelpolitik“ der „Betriebsratsfürsten“ und ihre generelle Vernachlässi gung der Arbeitsbedingungen entfaltete, diese genuin gewerkschaftlichen Kräfte nicht unterstützt. Die Betriebsratswahlen seit 1978 zeigen jedoch, daß klassische Politikfelder der betrieblichen Opposition wie Rationalisierungs–, Sicherheits– und Gesundheitsschutz, die Einführung von Personalinformationssystemen und elektronischen Zugangskontrollen und sogar in zunehmenden Maße Fragen des Umweltschutzes wichtige Themen für einen Teil der Chemie–Belegschaften darstellen. Oppositionelle Listen Beispiel Bayer: Seit 1978 ist die Opposition im Betriebsrat des Hauptwerkes in Leverkusen vertreten. Mit ca. 8 Prozent der Stimmen erreichten die „Kolleginnen und Kollegen für eine durchschaubare Betriebsratsarbeit“ 1981 und 1984 je vier von 49 Sitzen. Die Gruppe hat in den letzten Jahren zahlreiche betriebspolitische Themen wie die Selbstverwaltung der Pensionskassen oder die Einführung maschinenlesbarer Werksausweise und die daraus resultierende Gefahr der Kontrolle der gesamten betrieblichen Bewegungsabläufe aufgegriffen und die Belegschaft regelmäßig darüber informiert. Radikal fassen die „Durchschaubaren“ aber auch das heiße Eisen des Umweltschutzes im Betrieb an. Gegen die Mehrheit der Betriebsräte traten sie für den Stopp der Bayer–Dünnsäureverklappung in der Nordsee ein. Nicht erst seit der Sandoz–Katastrophe fordern sie die Offenlegung der Einleitgenehmigungen und der tatsächlich eingeleiteten Müllmengen ihrer Firma in den Rhein, um eine stärkere Kontrolle zu ermöglichen. Beispiel Hoechst: In den Werken des Frankfurter Chemie–Multis haben die Wahlen schon stattgefunden, und die „Durchschaubaren“ haben einen Durchbruch zumindest im Arbeiterbereich erzielt: Im Hoechster Hauptwerk konnten sie 25 Prozent der Arbeiterstimmen und 16,4 Prozent der Angestelltenstimmen für sich gewinnen. In den Zweigwerken fiel der Wahlerfolg der Oppositionellen noch deutlicher aus: bei Hoechst Griesheim steigerten sie sich von 25 auf 35 Prozent, in Offenbach von Null auf 29 Prozent. Im Hauptwerk sind die „Durchschaubaren“ seit 1981 mit rund 15 Prozent der Stimmen und sieben Sitzen im Betriebsrat vertreten. Umweltschutz ist auch hier ein wichtiges Thema. Ein programmatischer Punkt ist die Forderung nach einer Wahl und einem besonderen Kündigungsschutz für die bisher vom Arbeitgeber eingesetzten Sicherheits– und Umweltschutzbeauftragten. Darüber hinaus greifen die „Durchschaubaren“ eine Vielzahl betrieblicher Alltagsprobleme auf - von den Essenspreisen über Eingruppierungen und Schichtarbeiterfragen bis hin zu betrieblichen Umorganisationen und deren Auswirkungen. Über die wichtigsten Themen stellen sie in ihren monatlich verteilten Infos eine breite betriebliche Öffentlichkeit her. In dieser Öffentlichkeitsarbeit liegt die Stärke oppositioneller Listen. Wenn sie im Betriebsrat für ihre Anträge auch keine Mehrarbeiten finden, beeinflussen sie seine Politik allein schon durch ihre Präsenz und ihre Flugblätter. Dafür werden sie von einer großen Koalition - Werksleitung, Mehrheitsbetriebsrat und Gewerkschaft - bekämpft: mit Entlassungen, Kündigungsdrohungen, Abmahnungen und Gewerkschaftsausschlüssen. Während bei Bayer der Umgang miteinander relativ moderat ist und Ausschlußverfahren gegen die Gruppe eingestellt wurden, wurden die Hoechster auf Betreiben des Betriebsratsvorsitzenden komplett aus der IG Chemie ausgeschlossen. Begründung: Schädigung des Ansehens und Verunglimpfung der IG Chemie. Ein Beweis dafür konnte schwerlich beigebracht werden, verstehen sich doch die „Durchschaubaren“ selbst als konsequente und aktive Gewerkschafter. Während das Landgericht Hannover den Ausschluß als unbegründet zurückwies, wurde er vom Oberlandesgericht Celle bestätigt. Abweichend vom Ausschlußbegehren des Hauptvorstandes formulierte das Gericht selbst einen neuen Grund: Allein die regelmäßige Öffentlichkeitsarbeit sei gewerkschaftsschädigend. Nach seiner bisherigen Rechtsprechung wird der BGH diesem Spruch kaum folgen können. Beispiel Schering: Andere Umgangsformen mit „Oppositionellen“ legte die IG Chemie hingegen bei den Wahlen 1984 an den Tag: Hier waren vormals freigestellte IG–Chemie–Betriebsräte von den gewerkschaftlichen Vertrauensleuten nicht mehr zur Wahl aufgestellt worden. Sie kandidierten daraufhin zusammen mit Unorganisierten auf einer „Liste und erreichten im Angestelltenbereich immerhin acht Sitze gegenüber sieben Mandaten der IG Chemie. Das Ausscheren der IG–Chemie– Gewerkschafter der „Liste Gemeinsam“ aus der gewerkschaftlichen Organisationsdisziplin hatte in diesem Falle weder Funktionsverbote noch Ausschlußverfahren zur Folge. Im Gegenteil: Auf Vorschlag des IG–Chemie– Hauptvorstandes wurde ein Vertreter der „Gemeinsamen“ gar in den ehrenamtlichen Hauptvorstand der Gewerkschaft befördert. Hermann Mette
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