: Zum Sterben freigelassen
■ An den Folgen eines Leberschadens starb in einem Krankenhaus in Hannover Muammar Özdemir, nachdem er sechs Jahre in der Türkei im Gefängnis saß und dort mehrmals wochenlang gefoltert wurde
Aus Hannover Jürgen Voges
„Ich bin nach Hannover gekommen, weil ich hier geheilt werden kann. Die Ärzte in der Türkei geben mir keine Lebenschance“, sagte Muammar Özdemir, als ich ihn vor einiger Zeit in der Klinik der Medizinischen Hochschule besuchte, und legte dabei den dürren Arm, den er über dem Kopf gehalten hatte, auf seinen aufgequollenen Leib. „Doch trotz allem ist das Leben schön.“ Muammer Özdemir ist am vergangenen Donnerstag an den Folgen seiner sechsjährigen Haft in der Türkei gestorben. Als ihn das türkische Militär im November 1980 kurz nach dem Militärputsch in der Nähe seines Heimatortes Denizli verhaftete, war er 23 Jahre alt. Muammer Özdemir war Mitglied in der Organisation „Devrimci Yol“, die sich bewaffnet der putschenden Armee widersetzte. 1982 wurde er deshalb von einem Militärgericht in Izmir zum Tode verurteilt. Zwei Jahre später wurde dieses Urteil in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt. Doch schon im Juni 1986 diagnostizierte eine staatliche Gesundheitskommission bei dem nun 29jährigen eine „akut lebensgefährliche“ Lebererkrankung ohne „Genesungschance“, und im August wurde er „für sechs Monate“ aus der Haft entlassen. „Man wollte nicht, daß Muammer im Gefängnis stirbt und war überzeugt, daß er die Sechs–Monats–Frist nicht überleben wird“, sagt einer seiner Freunde vom „Informationszentrum Türkei“ in Hannover, die ihn in der Medizinischen Hochschule betreut haben. Weil eine Lebertransplantation für den Todkranken die einzige Hoffnung war, hatten seine Freunde gleich nach der Entlassung seinen Transport in die hannoversche Universitätsklinik organisiert. Nicht nur die Hepatitis, die zu der tödlichen Leberzirrhose führte, ist schuld an Muammar Özdemirs Tod. Bevor er Ende 1984 erkrankte, war er dreimal jeweils wochenlang gefoltert worden. Er selbst mochte in Hannover nur zögernd davon berichten. Ins Wasser habe man ihn geworfen, auf die Fußsohlen geschlagen und tagelang in eine Dunkelzelle voller Schlamm und matschigem Wasser gesperrt. Aber nicht nur die Folter, die Haftbedingungen überhaupt, das schlechte Essen, die Kälte im Winter hätten an seiner Gesundheit gezehrt. Und bei alledem habe es für kranke Gefangene praktisch keine Möglichkeit gegeben, den Gefängnisarzt aufzusuchen. Als Muammer Özdemir an Gelbsucht erkrankte, wurde auch ihm zunächst jede medizinische Versorgung verweigert. Erst nach mehreren Anträgen wurde er überhaupt zur Untersuchung beim Gefängnisarzt zugelassen. Doch dieser habe ihm dann lediglich Medikamente gegen Grippe verabreicht, vier Monate später wurde er in ein Militärhospital eingewiesen. Es folgte eine monatelange Odyssee durch Krankenhäuser und Haftanstalten, die lebensnotwendige Leberdiät wurde ihm vorenthalten. Erst als der Gefangene unter Dauerblutungen litt und sich sein Zustand immer mehr dem Leberkoma näherte, wurde er - zum Sterben - freigelassen. „Als Herr Özdemir hier ankam, war er stark unterernährt“, sagt die Ärztin, die den Kranken anfangs in der Medizinischen Hochschule Hannover betreute. „In seinem Bauch hatte sich so viel Wasser angesammelt, daß selbst an eine Transplantation vorerst nicht zu denken war.“ Vor einigen Wochen wurde Muammer Özdemir dann doch auf die Transplantationsliste gesetzt. Er schien so weit genesen, daß er nicht mehr ausschließlich durch Infusionen ernährt werden mußte. Genau sieben Monate nach seiner Entlassung starb er vor der rettenden Transplantation. „Die meisten politischen Gefangenen, die mehr als drei Jahre in der Türkei im Gefängnis sitzen, sind krank“, sagte er, als ich ihn besuchte. „Es fehlt ihnen an Geld für die Ernährung, für den Anwalt. Es ist die Aufgabe der Solidaritätsbewegung, das Leben dieser Gefangenen zu retten. Kommissionen aus Anwälten und Ärzten müssen in die türkischen Gefängnisse reisen.“ Die Situation in den türkischen Gefängnissen habe sich in den letzten Jahren nicht verbessert. „Die Gefangenen werden heute genausowenig wie 1981 ärztlich versorgt.“ Für den morgigen Samstag um zwölf Uhr haben die Freunde Muammer Özdemirs zu einer öffentlichen Trauerfeier auf dem Steintorplatz in Hannover aufgerufen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen