: Frei von der Leber reden verursacht Kopfweh
■ Die Rundfunkräte des Hessischen Rundfunks nehmen erfolgreich Anstoß an der Sendereihe „Liebes Volk - ein Redewettbewerb“, in der Hörerinnen und Hörer frank und frei, aber nicht länger als 20 Minuten zu einem Thema ihrer Wahl sprechen konnten
Aus Frankfurt Heide Platen
Das liebe Hörervolk bereitet dem Hessischen Rundfunk - speziell seinem Intendanten Hartwig Kelm - seit Wochen Kopfzerbrechen. Im Frankfurter Funkhaus in der Betramstraße 8 kursiert ein Briefwechsel zwischen dem renommierten Hörfunkredakteur Jürgen Geers und dem Leiter der Abteilung Hörspiel, Christoph Buggert. Die Zeitung der Gewerkschaft Rundfunk–Fernseh– Film–Union (RFFU) mokiert sich in ihrer Märzausgabe, Hörer protestieren und der Rundfunkrat mußte tagen. Jetzt hat der Intendant entschieden, daß die Hörer nicht hören dürfen, was ihnen am besten gefällt. Stein des Anstosses ist eine Rundfunkserie von Jürgen Geers und Inge Kurtz, „Liebes Volk“ - ein Redewettbewerb. Frei von der Leber weg sollten Hörerinnen und Hörer über das sprechen, was sie sich schon lange einmal von der Seele reden wollten. Einzige Bedingungen: freie Rede und nicht länger als 20 Minuten. Geers und Kurtz wählten für diese Co–Produktion von fünf Rundfunkanstalten aus 1.000 Bewerberinnen und Bewerbern 350 aus. Sechs Wochen reisten sie mit dem Übertragungswagen durch die Bundesrepublik und zeichneten auf, was die Menschen freute oder bedrückte. Am 29. Dezember 1985 sendete der HR dann die drei besten Re den, ausgewählt von einer Jury. Bundesministerin Rita Süssmuth, Rhetorikprofessor Walter Jens und der Kabarettist Dieter Hildebrandt vergaben die ersten drei Plätze an Annemarie Kindsvater (“Alte Menschen“), Heita von Plate (“Hände“) und Ingrid Detering (“Lesevergnügen“). Einen Sonderpreis des Rhetorischen Seminars Tübingen stiftete Walter Jens für die Rede des Konditormeisters im Ruhestand, Robert Grunwald, aus der Ausschnitte übertragen wurden. Die Hörer waren begeistert. Die Redaktion freute sich und handelte. Sie stellte insgesamt 50 Beiträge als „Kurzhörspiele“ vor, unter anderem am 15. Mai 1986 den kompletten Vortrag des Konditormeisters Grunwald und am 12. Juni den Beitrag „Erfahrung verpflichtet“ von Elsa Bechmann. Das hatte Folgen, die den Rundfunkrat auf den Plan riefen. Die CDU–Rundfunkräte Kanther und Milde waren verärgert. Der Sozialminister Armin Clauss (SPD) sinnierte darüber, ob jemend, der 20 Minuten lang fließend redet, noch „Volk“ sei oder schon privilegiert. Anstoß erregten vor allem Bechmanns Satz, „Für mich sind und bleiben Soldaten Mörder“, und ein Angriff Grunwalds gegen die Politiker Dregger, Mende und Wörner. Manfred Kanther (Generalsekretär der hessischen CDU) vermutete in Grunwald, laut Sitzungs– Protokoll, zu allererst einen DKP– Funktionär. Wenn dies nicht zutreffe, dann könne „es sich nur um einen Gestörten handeln“. Die Hörer des Hessischen Rundfunks sehen das anders. Sie folgten einem Aufruf der Redaktion, ihrerseits die beste Rede auszuwählen. Dem Gewinner winken 500 Mark. Die Rede ihrer Wahl sollte am 18. Mai 1987 unter dem Titel „Liebes Volk - die Hörer haben entschieden“ noch einmal gesendet werden. Für anhaltende Unruhe sorgten die Ergebnisse der inoffiziellen Stimmenauszählung: Ausgerechnet Bechmann und Grunwald liegen deutlich an der Spitze. Intendant Kelm ist nicht bereit, die Sendung noch einmal zuzulassen. Der Rundfunkrat habe sich dagegen ausgesprochen. Und die Meinungsfreiheit des „Lieben Volkes“ sei auch nicht bedroht. Schließlich sei die Rede schon gesendet worden. Das reiche hin und müsse nicht wiederholt werden. Bundesministerin Rita Süssmuth, der inzwischen unter der Hand unterstellt wurde, sie habe als Jurorin unsorgfältig gearbeitet, verwahrte sich. Sie habe sich die Beiträge alle genau angehört. Sie schrieb im Januar dieses Jahres an Autor Geers, sie hoffe auf Denkprozesse. Die Auseinandersetzung um die Reden sei „vielleicht eine unvermeidliche Folge, wenn Redner/innen die Tabugrenzen unserer Gesellschaft übertreten, wer weiß“. In einem Brief vom 4. März fragt nun Autor Geers bei Hörfunkleiter Buggert an, wie denn am 18. Mai verfahren werden solle. Bleibe die Grunwald–Rede weiterhin in der Gunst der abstimmenden Hörer, müsse Stellung genommen werden, wenn sie nicht gesendet werde. Durch die 12–Uhr–Nachrichten, per Formbrief, durch eine „wichtige Mitteilung“, „oder hüllen wir uns in Schweigen?“ Buggert antwortete am selben Tag. Er beruft sich auf das negative Votum des Rundfunkrates, auch wenn er selbst die beanstandete Konditor– Rede seinerzeit gelobt habe. Daß nicht gesendet wird, ist entschieden. Hörer können ihre Lieblingsrede dennoch anhören. Sie ist bei der Netzwerk Medien Cooperative in 6000 Frankfurt, Hallgarten Straße 69, als Cassette zu bestellen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen