Wagenburg

■ Zur Nach–Brandt–Ära in der SPD

Mit seltener Einmütigkeit haben Kommentatoren verschiedener Couleur und Politiker anderer Parteien jetzt Willy Brandt auf seinen Ort in der Geschichte abgeschoben, so als handele es sich um ein wohl bestelltes Altenteil. Aber man wird den Verdacht nicht los, als liege dieser Platz in der Geschichte außerhalb der deutschen Grenzen, als sei Brandt in seine wahre politische Heimat zurückgekehrt, die Emigration. Obwohl er allein schon mit der Ostpolitik - gemessen an den Widerständen - als der erfolgreichste Politiker der Nachkriegszeit gelten kann, hat der Erfolg bei ihm niemals den Makel der Fremdheit gelöscht. Er hatte versucht, die Rückkehr aus der Emigration zu einem politischen Normalfall zu machen. Doch konnte er die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit nicht einmal in der Partei provozieren, die eben zur übergroßen Mehrheit aus Kriegsheimkehrern und nicht aus Emigranten bestand. So entwickelte Brandt wie kein anderer eine Sprache der innenpolitischen Diplomatie, aus der immer wieder die resignative Sicht der deutschen Verhältnisse durchschimmerte. Programmatische Fanfarenstöße waren selten. Das „Mehr Demokratie wagen“ in seiner Regierungserk eine sozialdemokratische Regierung, nicht aber eine emanzipatorische sozialdemokratische Politik zuzumuten sei. Wenn sich die Sozialdemokratie vom schnellen Ende seines langen Abschieds erholt hat, wird sie feststellen, daß die Krise der Partei sich nicht in dem Problem eines Generationswechsels erschöpft. Brandt als Vorsitzender hatte immer noch die Hoffnung auf strategische Perspektiven erweckt. Allein, über orakelhafte Sprüche einer „Mehrheit diesseits von der Mitte“ wagte er sich selten hinaus. Sein Abgang ist nicht ohne aufschlußreiche Ironie: er hat seinen Kronprinzen Lafontaine in die gewünschte Startposition gebracht. Aber zum Rücktritt bewegt wurde er schließlich von SPD–Linken, die politisch zur Seilschaft degeneriert sind. Mit dem Gespann Vogel/Fuchs bildet die Partei eine Wagenburg um das, was in der Zeit der Krise offenbar das Wichtigste ist: der Apparat. Jochen Vogel sollte dabei nicht unterschätzt werden. Er wird in der Sozialdemokratie geradezu geliebt, ob seiner Verläßlichkeit, seiner Zugänglichkeit und nicht zuletzt ob seines Verzichtes auf personalpolitische Hintergrundmanöver. Er hat auch, weit mehr als Brandt, Zugang zu den Grünen, das heißt zu Grünen Abgeordneten, die ebenso diese Tugenden schätzen. Aber seine Wahl wird möglicherweise von der Partei teuer bezahlt werden: er wird der Partei eine ideologische Quarantäne aufzwingen in einer Krise, in der die innerparteiliche Auseinandersetzung ja gerade schnellstens organisiert werden müßte. Es gibt ein Tabu in der Partei, das sich aus dem Aufstieg der SPD zur Regierungspartei erklärt: Die SPD ist die Partei der sozialstaatlichen Versöhnung geworden, sowohl in ihrer Ideologie als auch vom beruflichen Hintergrund vieler Sozialdemokraten. Das wird auch unter Vogel nicht zum Thema gemacht werden. Dazu ist er viel zu geübt im Nachrechnen des Sozialabbaus. Klaus Hartung