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Will der RGW die gesamteuropäische Wirtschaftsunion?

■ Ostblock setzt auf westliche Wirtschaftsvorbilder / RGW–EG–Wirtschaftsverbund bei Beibehaltung unterschiedlicher politischer und sozialer Systeme? / Hamburger EG–RGW–Symposium zeigt sensationellen Positionswandel der osteuropäischen EG–Politik / Ostwissenschaftler träumt von Sibirien bis Gibraltar

Aus Hamburg Florian Marten

Über 100 höchstrangige Vertreter aus Verwaltung, Politik und Wirtschaft aus Brüssel, Bonn, Budapest, Moskau und Berlin hatten sich am 23. und 24. März auf Einladung der Hamburger Uni und der SPD–Fraktion des Europa– Parlaments zu einem zweitägigen Symposium „Neue Perspektiven der EG–Beziehungen mit den RGW–Mitgliedstaaten“ in Hamburg versammelt. Insbesondere die osteuropäischen Vertreter, allen voran der Generalsekretär des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), Wiachteslaw Sytschow, machten schnell klar, daß sie diesem Treffen hohe Bedeutung zumaßen. Es konnte zwar nicht um konkrete Beschlüsse gehen, wohl aber um ein vergleichsweise offenes Diskutieren und Position–Beziehen ohne diplomatische Zwänge. Bis Anfang der achtziger Jahre hatte die UdSSR jeden offiziellen Kontakt der RGW wie auch einzelner RGW–Staaten zur EG blockiert. Die EG wurde als Politblock am ausgestreckten Arm der USA mißverstanden, den es in der Tradition zaristischer Außenpolitik durch geschickte Diplomatie mit einzelnen Staaten auszuhebeln galt, so ein Westwissenschaftler. Mit einem Brief des RGW–Chefs Sytschow an den Chef der EG– Kommission Delors im Jahre 1982 begann eine neue Ära. Seit kurzem finden nun offizielle Gespräche zwischen der EG–Kommission und dem RGW–Generalsekretär in Genf statt, die quasi als offiziellen Start eine gemeinsame Erklärung zum Gegenstand haben werden. Hatten jahrzehntelang die Osteuropäer eine gegenseitige Annäherung aus politischen Gründen blockiert, so mauert jetzt der Westen. In den Knackpunkten „Technologietransfers“ (auf Druck der USA darf Hochtechnologie nicht in den Osten exportiert werden), „EG–Handelshemmnisse“ (die EG schottet mit Zöllen, Vorschriften und Mengenbegrenzungen ihre Märkte rabiat, vor allem gegenüber östlichem High–Tech und Maschinenbau ab) und „ungleichgewichtige Handelsstruktur“ (der Osten liefert billige Rohstoffe, der Westen teure Maschinen und Konsumgüter) gaben sich die Westvertreter überheblich. Ostbeteiligung an Eureka Der gesamte Ost–West–Handel zwischen EG und RGW habe schließlich ein geringeres Volumen als allein der Handel BRD - Niederlande, die Entwicklungsperspektiven seien angesichts der schlechten finanziellen Verfassung der RGW–Länder eher bescheiden. Jürgen Kühn vom Bonner Wirtschaftsministerium sattelt noch drauf: Beim Technologieexport sei das Sicherheitsbedürfnis des Westens ein unverzichtbares Kriterium, worauf der Ostberliner Wissenschaftler Jürgen Nitz, der darin eher eine US– amerikanische denn eine genuin europäische Position wittert, konterte: „Wenn wir schon bei den Abrüstungsverhandlungen über Kontrollen vor Ort diskutieren, dann wird es vielleicht eines Tages auch möglich sein, vor Ort zu kontrollieren, ob wir den Mikroprozessor in einer Großwäscherei zum Bettdeckenwaschen oder bei den Raketen der Roten Armee in Sibirien zum Einsatz bringen.“ Auch Nachhilfeunterricht im Weltmarkterobern kam von Ostvertretern. Sytschow: „Die Erschließung aufnahmefähiger Märkte der Länder der sozialistischen Staatengemeinschaft trägt zur volleren uund rationelleren Auslastung der Produktionskapazität bei.“ Ein wirtschaftlich gestärktes Europa, so ergänzte der Ostberliner Nitz, habe auch bessere Chancen, sich auf dem Weltmarkt durchzusetzen. Nitz arbeitete die eurozentristische Utopie am prägnantesten heraus. Für ihn ist ein Europa von Sibirien bis Gibraltar vorstellbar, wo in einer „großen europäischen Wirtschaftsunion“, untergliedert vielleicht in „Unterräume“ (Beispiel: Balkan, Nordeuropa...), Staaten unterschiedlicher politischer und sozialer Systeme für einen gemein ein gemeinsamer Umweltschutz und schließlich ein gesamteuropäischer Verkehrsverbund stehen auf Nitz Wunschliste. Nitz bekundete eine große Bereitschaft gerade der DDR–Firmen, ihr Marketing, ihr Produktdesign und ihre Produktionsanforderungen an westliche Vorstellungen anzupassen. Sein Hauptvorwurf galt dem Westen, der eine marktwirtschaftliche Konkurrenz östlicher Produkte durch unfaire Marktabschottung behindere. Wenn denn schon der Handel BRD - Niederlande heute noch genauso groß sei wie der gesamte Handel EG - RGW zeige dies doch die schier unvorstellbaren Wachstumschancen einer ernsthaft angegangenen gemeinsamen Wirtschaftsentwicklung. Vorreiter Ungarn Wie sehr der Osten nicht nur redet sondern handelt, machte der stellvertretende Direktor der ungarischen Nationalbank, Garbor Vertes, deutlich: In Ungarn gebe es bereits Banken, die mehrheitlich in westlichem Besitz seien. Man sei dabei, eine „Mehrwertsteuer“ einzuführen, Steuern auf Einkommen, denke über die „Liquidierung von verlustbringenden Unternehmen“ nach. Von herausragender Bedeutung sei auch die direkte Zusammenarbeit mit westlichen Firmen in Form von Joint–Ventures–Unternehmen - auch mit Blick auf die Tätigkeit in Drittländern. Als letzten Clou zur Absicherung westlicher Investoren bietet die ungarische Nationalbank jetzt sogar eine Versicherung gegen die Schäden aus „staatlichen Eingriffen“ an. Es ist keineswegs zu hoch gegriffen, wenn der SPD–Europa– Abgeordnete Hans–Joachim Seeler den „Mantel der Geschichte rauschen“ hörte. Gorbatschows neue Politik schien den lange unterdrückten Träumen vieler Ostfunktionäre endlich Ausgangserlaubnis gegeben zu haben. Das Konzept eines gesamteuropäischen Wirtschaftsraumes, der neben dem Pazifikraum als einzige potentielle mittelfristige Wachstumsregion gilt, könnte die Weltgeschichte beeinflussen, wie kaum ein anderes Ereignis der letzten Jahrzehnte - freilich mit derzeit völlig unkalkulierbaren sozialen, politischen und ökologischen Auswirkungen.

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