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Handlungsreisende in Sachen Volkszählung

Berlin (taz) - Vorgestern Düren, gestern Oberhausen, heute Saarbrücken, morgen Clausthal–Zellerfeld - der Terminkalender des grünen Fraktionsmitarbeiters Roland Appel ist bis Mai mit Anti– Volkszählungsveranstaltungen ausgebucht. Mindestens zweimal die Woche ist auch der Frankfurter Rechtsanwalt Stefan Baier in derselben Sache unterwegs. Täglich einen, manchmal sogar zwei „Vobo–Auftritte“ verzeichnet der ehemalige grüne Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele zur Zeit und rund 100 Veranstaltungen - darunter keine unter 400 Besuchern - wird der Hamburger Informatik–Professor Klaus Brunnstein hinter sich haben, wenn Ende Mai das Volk doch noch gezählt werden sollte. Appel, Ströbele, Baier und Brunnstein gehören nur zu den prominentesten der zahllosen Experten und Referenten, die zur Zeit in Sachen Volkszählungsboykott fast täglich quer durch die ganze Bundesrepublik reisen. Ihr Terminkalender und ihre Erfahrungen sind ein Indiz für das, was sich unterhalb der öffentlichen Wahrnehmung zwischen Kiel und Passau flächendeckend gegen die Volkszählung „zusammenbraut“ und was in den Medien bestenfalls in Form von „Gesetzesverstößen“ oder Veranstaltungsverboten auftaucht. Mehrere hundert Menschen, an einigen Tagen sogar mehrere tausend, kommen jeden Tag irgendwo in der Bundesrepublik in Kneipenhinterzimmern, Hörsälen oder Kulturzenten zusammen, um sich dort die Informationen zu holen, die sie von anderer Seite nicht bekommen. „Egal ob es eine Großstadt ist oder ein Ort mit vierstelliger Postleitzahl, den ich erst auf der Landkarte suchen muß: Der größte Raum am Orte reicht nie aus“, berichtet Christian Ströbele. In Stuttgart mußten Anfang März rund 200 Interessierte wieder nach Haus geschickt werden, weil der Veranstaltungsraum nur 1000 Personen faßte. In Osnabrück mußten wenig später die Saalordner die Türen zum hoffnungslos überfüllten Saal mit aller Kraft schließen. Einhellige Erfahrung aller „Handlungsreisenden in Sachen Volkszählung“: auch wenn die Veranstaltungen nur einen Tag vorher angekündigt waren: es wird immer proppevoll. Wer da kommt, um sich zu informieren oder auch nur in seinem Unwohlsein bestätigen zu lassen, ist je nach Region und Veranstalter recht unterschiedlich. Kommt in den größeren Städten eher die linke „Szene“, ist das Publikum in den Kleinstädten sehr gemischt. Rund die Hälfte der Leute würde Rechtsanwalt Stefan Baier am ehesten als Arbeiter oder Kleinbürger einordnen. „Ungewöhnlich viele ältere Zuhörer“, registiert auch Informatiker Brunnstein bei seinen Veranstaltungen und Christian Ströbele hat häufig das Gefühl, „am falschen Ort zu sein, so etabliert wirken die Leute im Publikum manchmal“. Und dieses Publikum - seien es Autonome, Bauern oder Zahnärzte - hört nicht nur stundenlang interessiert zu, sondern hört auch nicht auf zu fragen. „Das ist ein so ungeheurer Unterschied zu Wahlkampfveranstaltungen“, meint Ex–MdB Ströbele, „dort hast du das Gefühl, du mußt den Leuten dankbar sein, daß sie überhaupt gekommen sind. Hier bei den Vobo–Veranstaltungen kommen sie in Scharen und sind sogar dankbar für jede Information.“ „Die meisten haben schon eine feste Meinung gegen die Volkszählung, aber sie wollen Hintergrundinformationen, die ihnen ihr Unwohlsein untermauern und sie wollen das Gefühl, daß sie mit ihrer Meinung nicht alleine stehen“, berichtet Roland Appel. „Es ist ungeheuer, welch ein Mißtrauen gegenüber den Behörden dabei meist zum Ausdruck kommt.“ Trotz der ewig wiederkehrenden Fragen: „Wie hoch wird das Bußgeld sein?“ und „Was soll ich tun, wenn ich zur Volkszählung gerade in Urlaub bin?“ geht es bei dem Interesse der Leute längst nicht mehr bloß um die Volkszählung. „Die Volkszählung ist nur ein Symptom. Der Schwerpunkt der Diskussion verschiebt sich mehr und mehr auf den politischen Kontext, auf den Überwachungsstaat, auf den Personalausweis, auf Zevis“, beobachtet Prof. Brunnstein. Und immer mehr, so stellen die „Vobo– Handlungsreisenden“ übereinstimmend fest, geht es den Leuten um den Staat, den man wegen tausenderlei Dinge „piesacken“ will, und das Demokratieverständnis der Regierenden. „Bei der Mehrheit ist das ganz starke Gefühl, daß es Bereiche gibt, die den Staat nichts angehen und daß jetzt einmal eine Grenze gesetzt werden muß“, beschreibt Christian Ströbele diese Stimmung. Doch trotz dieser Stimmung gibt es Bedenken, wie politisch diese Vobo–Welle eigentlich ist. Götz Aly, der zur Zeit als „Experte“ zum Thema Statistik und Volkszählung im Nationalsozialismus durch die Lande reist, ist da sehr skeptisch: „Die Leute hören toll zu, aber die Diskussion bewegt sich meist auf der individuellen Ebene, daß der Staat die persönlichen Daten nicht bekommen darf.“ Staatliche Planung oder das Thema Bundesswehr als ein Hauptinteressent an der Volkszählung würden kaum diskutiert. „Ich habe das Gefühl, daß nach der Volkszählung alles so sein wird, als sei nichts geschehen“, fürchtet Götz Aly. Christian Ströbele ist da optimistischer: „Wenn tatsächlich 3–5 Millionen Leute die Volkszählung boykottieren, dann wird das die ungeheure politische Erfahrung, daß der Staat einfach nicht alles machen kann, was er will.“

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