„Der letzte Rest von Kreuzberg“

■ Gewalttätige Auseinandersetzung um Kita–Baustelle auf dem Gelände eines Kinderbauernhofes / Schmuddelfraktion gegen mittelstandsorientierte Alternative Liste / Ein Freiraum soll verteidigt werden / Zerreißprobe für die AL

Aus Berlin Gerd Nowakowski

Werner Orlowsky, von der Alternativen Liste (AL) im Berliner Bezirk Kreuzberg gestellter Baustadtrat, hat seit einer Woche nach massiven Drohungen eine polizeiliche Begleitung; eine fast fertiggestellte Kindertagesstätte im Bezirk brannte nach einem Anschlag teilweise ab; dazu kommen mehrere Polizeieinsätze mit heftigen Prügeleien und Festnahmen: Ergebnisse eines Konflikts, bei dem beide Seiten das Wohl der Kinder im Munde führen und der für die AL inzwischen zu einer Zerreißprobe geworden ist. Auf dem Höhepunkt der Besetzerbewegung, im Winter 1981, werden nicht nur Häuser dutzendweise in Kreuzberg besetzt, sondern auch brachliegendes Gelände. In der Adalbertstraße, direkt an der Mauer zwischen schmuddligen Häusern und Halbruinen, entsteht der Kinderbauernhof. Ponys, Schafe, Hühner und andere Tiere bevölkern bald das Gelände; ein Acker wird angelegt. Inmitten des heruntergekommenen, chronisch grün–defizitären Bezirk ein Hauch von Natur für die Kinder. Statt Kaputt–Sanierung ist Kreuzberg heute Spitzenreiter der Schönsanierung. Kreuzberg hat sich vom überalterten Bezirk der Mauerstadt zum Bezirk mit dem jüngsten Altersschnitt entwickelt und ist wieder attraktiv - auch für den (linken) Mittelstand. Seit Ende März 87 wird auf dem Gelände des Bauernhofes eine Kindertagesstätte gebaut. „Die beste Kita des Bezirks“, lobt die AL sich und die angesichts einer Kitaplatz–Warteliste von 1.600 Kindern dringend benötigte Einrichtung: Lediglich 70 Plätze, baubiologisch aus Holz statt aus Beton, gibt der Bezirk bekannt, in dem die Alternativen mit 28 Prozent Wählerstimmen zwei von sieben Stadträte stellen. Zudem sei die Kita direkt neben dem Kinderbauernhof gelegen, der das Angebot für die Kinder noch anreichert. Einziger Schönheitsfehler: Die Kinderbauern wehren sich erbittert gegen den Bau. Vor zwei Wochen brach der lange schwelende Konflikt auf. Mit massivem Polizeieinsatz wird der von den Kinderbauern und ihren Freunden besetzte Bauplatz geräumt. Die fühlen sich vor allem von der AL verraten und lasten den populären Baustadtrat Orlowsky den Polizeieinsatz an. Während die AL beteuert, ihre Interessen bestens vertreten zu haben, fühlen sich die Kinderbauern in ihrer Exi stenz bedroht. Ein Drittel ihrer Fläche müssen sie abgeben für ein „faires Angebot“ im „Interessenkonflikt“, wie es Stadtrat Orlowsky sagt. Einen anderen Standort habe man trotz intensivster Bemühungen nicht finden können. Zudem erhalte der Kinderbauernhof eine Ausgleichsfläche. Alles zutreffend; das Dilemma beginnt freilich jenseits der Argumente. Der Bauernhof ist für seine Anhänger Symbol geworden im Kampf um einen Freiraum, bei dem sich die Kinderbauern und ihre Freunde aus dem angrenzenden Kiez als Opfer der Schönsanierung empfinden. „Wir sind der letzte Rest von Kreuzberg“, sagt einer der Unterstützer. Sie sind die Punks, die Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger, die underdogs des Bezirks, die ewigen Opfer, die ihren Kiez um den Mariannenplatz verteidigen, den sie von einer zum Mittelstand gewendeten AL bedroht sehen. Daß sie in der Vergangenheit diese Planung guthießen, verneinen sie nun. „Jetzt müssen wir der AL beweisen, daß wir eine Initiative sind“, empören sie sich, und: „Früher waren die Initiativen die AL“. Sie seien die übriggebliebenen „Schmuddelkinder“, mit denen die AL nichts mehr am Hut hat. Auch die AL hat inzwischen ein Bild wie Politik gemacht wird; ge duldige Terminhocker, die ihre Interessen beharrlich und mit geordneten Akten vertreten aber sind die Kinderbauern nicht. Ein Nebeneinander, das von unabhängigen Beobachtern für möglich gehalten wird, können sich die Kinderbauern nicht vorstellen, noch wollen sie die ihnen zugewiesene Rolle als Service–Betrieb für die Kita nicht spielen. Für die AL ist der Konflikt inzwischen zur Zerreißprobe ge worden. Baustadtrat Orlowsky ist heftig kritisiert worden, den Polizeieinsatz nicht verhindert zu haben. Der allerdings sieht es als ein zukunftsweisendes Problem infolge einer gewachsenen Partei, die Regierungsverantwortung mitträgt und verschiedenste Interessen unter einen Hut bringen muß. Je stärker die AL werde, umso häufiger müsse mit solchen Konflikten gerechnet werden. Unter massivem Druck der anwesenden Kinderbauern und ihrer Freunde hat die Bezirksgruppe am vergangenen Dienstag den Bau für „politisch nicht durchsetzbar“ erklärt und sich vom eigenen Beschluß distanziert. Auch auf Landesebene hat die Mehrheit der Bezirksdelegierten am Mittwoch in einer chaotischen Sitzung Asche auf ihr Haupt gestreut: Verräter will keiner sein. Im Regen steht nun Baustadtrat Orlowsky. Die Bauarbeiten für die Kita werden derzeit unter Polizeischutz durchgeführt. Sondermittel für eine ständige Bewachung der fertigen Kita hat das Bezirksamt schon eingeplant. Die Kinderbauern jedenfalls wollen nicht nachgeben. Alles oder nichts, ist ihre Parole. Vergeblich verweist der Baustadtrat darauf, daß es die AL war, die sich bisher für den Erhalt des Kinderbauernhofes gegen die räumungwwillige CDU und SPD–Mehrheit eingesetzt hat. „Die verspielen ihre letzte Chance“, fürchtet Orlowsky. Doch das Abwägen spielt keine Rolle mehr. „Das ist unser Klein– Wackersdorf“, sagen die Kinderbauern–Fraktionäre und rufen zum Sonntagsspaziergang auf dem Gelände auf. Am Sonntag löste dies einen Polizeieinsatz aus - wohl nicht den letzten.