: Zwischen Zorn und Tränen
Die Stimmung war schon trist genug bei SPD und Grünen am Sonntag abend im hessischen Landtag. Gegen 21.15 Uhr sank sie gänzlich auf den Nullpunkt. Um diese Uhrzeit stand fest: ein hauchdünner Wahlsieg von CDU und FDP. Die Kuppelhalle des hessischen Landtags in Wiesbaden - sonst bei Wahlen Zentrum quirliger Aufgeregtheiten - blieb merkwürdig ruhig. Bei jeder Hochrechnung, die bis kurz vor Ende der Wahlen ein Patt zwischen den politischen Blöcken immer sicherer werden ließ, ging ein leises Murmeln durch die Reihen. Die Politiker, von CDU bis zu den Grünen, sonst oft vor der Zeit umringt und begierig befragt, konnten diesmal fast unbehelligt in die Fernsehstudios einziehen. Die Body gards, die Wallmann mit ineinander verschränkten Armen umringten, wirkten seltsam überflüssig. Cohn–Bendit, Herausgeber des Stadtmagazins Pflasterstrand, würdigte Wallmanns Auftritt mit dem Ruf: „Da kommt der Panzerkreuzer Potemkin!“ Der Abend der rot–grünen Niederlage endete für viele Prognosti ker in der Katastrophe. Nie vorher hatten sich Meinungsforscher und Hochrechner so lange so gründlich geirrt. Nie vorher waren Journalistinnen und Journalisten bis ganz kurz vor Toresschluß so verunsichert. Redaktionsschlüsse drängten, Meinungen und Vermutungen wurden ausgetauscht. Einzig Faz–Redakteur Busche triumphierte. Er habe, sagte er, schon vorher gewußt, daß das knappe Ergebnis sich gegen die Meinungsforscher kehren könne: „Wenns mal kippt, dann kippt es ganz.“ Die taz mochte ihm nicht recht geben und titelte um 19.45 Uhr falsch für die gesamte hessische Ausgabe. Eben deshalb kam es bei der grünen Wahlfete in der Geschäftsstelle in Frankfurt fast zu einer Prügelei. Der Hilfspressesprecher der Landtagsfraktion, Broka Hermann, mußte sich heftig verteidigen. Er hatte aus der Druckerei im Keller des Hauses die druckfrischen taz–Exemplare in den Festsaal im vierten Stock getragen und begonnen, sie genüßlich anzuzünden. Grüne Aufpasser verdächtigten ihn, in Verkennung der Situation, ein zündelnder politischer Gegner zu sein. Als gegen 22 Uhr Walter Wallmann seinen ersten Fernsehauftritt als künftiger hessischer Ministerpräsident hatte, stieg der Bierumsatz ins Uferlose. Die Stimmung schwankte ständig zwischen Zorn und Tränen. Frankfurter Feministinnen, Schwule, Emigranten, Lehrerinnen und Lehrer, Mitarbeiter in Forschungsprojekten und Alternativbetrieben klagten sich gegenseitig ihr Leid. Das meistgesprochene Wort des Abends: „Scheiße!“ Nur wenige wagten in dieser langen Nacht einen Blick in die Zukunft. Die Fundamentalisten, denen die Oppositionsrolle näher ist als den Realpolitikern, verzichteten auf Häme und rauften sich die Haare. Auch sie empfanden eine Wallmann–Regierung als Bedrückung. Überhaupt machten viele der trübsinnig Versammelten posthume Lernprozesse, die sich zu einem Lobgesang auf das verflossene rot–grüne Bündnis steigerten. Jenseits aller konkreten rot–grünen Erfolge werde die Atmosphäre im seit 41 Jahren SPD– regierten Hessen von gemütlich lockerer Liberalität ins Stockreaktionäre umschlagen. Diejenigen, die des Leckens der eigenen Wunden überdrüssig wurden, packte, je später der Abend und um so höher der Alkoholkonsum, eine Art „heiliger Zorn“. Vorschläge kursierten, wie wohl der Wallmann–Regierung die Lust an der Macht am ehesten vermiest werden könnte. Der Volkszählungsboykott, gelobten sie, werde eine der ersten Nagelproben in Hessen sein, bei der sich eine starke Opposition in allen Städten und Gemeinden bewähren müsse. Zu noch späterer Stunde füllten sich die Gaststätten in den Stadtteilen. Hier trafen klagende Grüne auf räsonierende SPDler, die sich in Schuldzuweisung übten. Wären die Grünen, meinten sie, mit nur einem Prozent ihrer Stimmen bereit gewesen, diesmal die SPD zu wählen, hätte es nach dem Hare– Niemeyerschen Auszählungsverfahren gereicht, um an der Regierung zu bleiben. Sie mögen - zu spät - recht behalten haben. Gestern mittag gab der Wahlleiter bekannt, daß der SPD genau 2.954 zum Patt gefehlt hätten. Ein Grüner wiederum gab den Kommunisten die Schuld: Ihre 0,3 Prozent hätten auch ausgereicht, wären sie nicht zur Wahl angetreten. Dies war auch die Zeit, in der sich nach dem ersten allgemeinen Erschrecken viele einzelne bange Fragen zu ihrer persönlichen Zukunft stellten. Tom Koenigs, noch im hessischen Umweltministerium angestellt, sah das lakonisch und gefaßt: „Die schmeißen mich jetzt raus!“ Andere, zum Beispiel Frauen aus den Frauenprojekten, wirkten sichtlich verzweifelt: „Wir kriegen jetzt keinen Pfennig mehr.“ Die Mitarbeiterin eines sozial–ökologischen Forschungsprojektes sah ihre Arbeitsergebnisse zu Makulatur werden. Ein grüner Medienexperte gab sich ganz gelassen: „Jetzt müssen wir wenigstens den Medien–Staatsvertrag, den Börner immerhin noch mitunterschrieben hat, nicht blockieren.“ Heide Platen
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