Italiens „Oberbombenleger“ gibt sich bedeckt

■ In Brescia fand der erste Gerichtsauftritt von Italiens meistgesuchtem Rechtsextremisten Stefano delle Chiaie statt / Außer Altbekanntem trägt delle Chiaie nichts zur Aufhellung des brutalen Anschlags auf der „Piazza della Logia“ bei

Aus Brescia Werner Raith

„Das Spiel, das die hier treiben“, befindet in matter Resignation der sonst eher temperamentvolle Bologneser Untersuchungsrichter Pierluigi Vigna, „kann man am besten als Ausschluß der Öffentlichkeit durch die Hintertür bezeichnen.“ Viel fehlt nicht daran - obwohl der Große Sitzungssaal des Schwurgerichts der oberitalienischen Stadt Brescia viel zu klein ist für die vielen Zuschauer und die wie eine Schafherde nach vorne drängende Journalistenphalanx. Doch wer hier anwesend ist, kann das Schauspiel faktisch allenfalls per Zufall miterleben - nur wer über ganz besondere Hinweise verfügte oder eher zufällig hier in den Prozeß um den Anschlag auf die „Piazza della Loggia“ vom 28. Mai 1974 (acht Tote, 94 Verletzte) hereinschaute, konnte den ersten „Auftritt“ von Italiens meistgesuchtem mutmaßlichen Oberattentäter Stefano delle Chiaie mitverfolgen. Ansonsten herrscht im ganzen Land nichts als Unsicherheit über den „Riesenwinzling“ (“Il Resto del Carlino“), den mittlerweile fünfzig jährigen, nur gut einsfünfundfünfzig großen Gründer der „Avanguardia nazionale“. Mehr als 17 Jahre trieb er sein Unwesen von allerlei Dunkelmännern der Loge „P 2“, von Polizisten und Geheimdienstlern in Italien und mehr als einem Dutzend europäischer wie lateinamerikanischer Länder. Mit sichtlichem Stolz ruft der Präsident der „Corte dassise“, Oscar Bonavitascola, den „Zeugen delle Chiaie, Stefano“ auf - im Gerichtssaal ein Aufschrei und dann Stille wie im Zirkus bei der fingierten Absturznummer am Drahtseil: Er hat es also als erster geschafft, der Präsident, den Übeltäter herzubekommen. Seit vor einer Woche der Rechtsextremist in Venezuela festgesetzt und im Blitzverfahren nach Italien ausgeliefert worden war, kam die Justiz - und so manch anderer Bereich - nicht mehr zur Ruhe. Geheimverhandlungen zwischen der italienischen Justiz und delle Chiaies Rechtsanwalt soll es gegeben haben, um den „Kronzeugenparagraphen“ auf den mutmaßlichen Urheber von mindestens hundert Anschlagstoten (von der Landwirtschaftsbank in Mailand 1969 bis zum Bahnhof von Bologna 1983) anwendbar zu machen. Ein Riesendossier von mehreren hundert Seiten soll der „bombaroio capo“, der Oberbombenleger, an mehreren sicheren Orten hinterlegt haben, ansonsten sei er bereit, „über alles, was er weiß, insbesondere die Rolle der Behörden und der Geheimdienste und ihr Zusammenspiel mit dem rechten Umsturz und den neofaschistischen Parteien“ auszusagen - kündigte jedenfalls sein Rechtsanwalt an. Doch ob aus alledem etwas wird, weiß keiner. Rechtsanwalt Pisauno, der delle Chiaie als dessen Vertrauensanwalt verteidigt, saß gestern jedenfalls in Erwartung seines Klienten in Bologna - und einige Hundertschaften von Reportern mit ihm, denn da soll der Rechte ebenfalls aussagen, ebenso wie in Mailand, in Venedig, in Verona, in Bari, in Reggio Calabria, in Gioia Tauro... Gewinner diesmal also, wer auf Brescia gesetzt hatte: Delle Chiaie soll mit dem Kommando zu tun gehabt haben, das vor 13 Jahren Handgranaten in eine Gewerkschaftsversammlung geworfen hat. Er setzt sich, nein: lehnt sich eher bequem in den unbequemen Zeugenstuhl, hört sich an, daß er jetzt gerade Zeuge, ansonsten aber auch Angeklagter ist - und beginnt. Womit? Mit einer wolkigen Rundreise durch seine Bekannten und Gönner, seine vielen Organisationen und Hilfsquellen - alles unkonkret, flüchtig, kaum etwas Neues dabei, was nicht schon Dutzende von Büchern über die „stragi“ (Massaker) auch schon enthüllt hätten. Doch als sich der Vorsitzende dann endlich aufrafft und „Konkretes“ wissen will, versiegt der Wortschwall jählings: Da setzte sich delle Chiaie ganz aufrecht hin - und weist alles zurück. Seine „Avanguardia nazionale“? Natürlich habe er die gegründet. Aber nie habe jemand davon Bomben geworfen, Attentate ausgeführt, auch nicht, nachdem man sich von der neofaschistischen Partei MSI getrennt habe - „die uns nun wirklich zu lahm und dümmlich war“. Doch die „A.N“ habe, ganz im Gegensatz zu den Anschuldigungen, „Obstruktion“ betrieben - gegen die eigenen Weggenossen, die tatsächlich - hört, hört - „Bomben legen wollten, vor allem aber gegen jene“. „Jene? Wer sind jene?“ will der Vorsitzende wissen. „Die man laufen hat lassen.“ Wer also? „Jene, von denen man Namen und Taten hätte wissen können, wenn man nur wollte.“ Aus, basta. Der Präsident wird zunehmend unsicherer, brummelt etwas von „Fehlinformationen“ und meint wohl die delle Chiaie vorausgeeilte Kunde von der Aufhellung der damaligen Vorgänge. Doch nichts zu machen: Nach drei Stunden wissen wir alle genausoviel wie zuvor. „Infelisi“, murmelt da einer der Schreiber–Kollegen, dann ein anderer, dann ruft am Ende der Sitzung auch noch einer nach vorne: „Herr Präsident, Sie sollten lieber den Infelisi vernehmen.“ Infelisi - das ist der Untersuchungsrichter, der delle Chiaie bei seiner Ankunft in Rom „entgegennahm“. Ohne irgendeinen Auftrag, ohne je in einem der Rechtsextremistenverfahren tätig gewesen zu sein. Er hat auch kein Protokoll angefertigt über seine Gespräche mit delle Chiaie. „Es war alles nur informell“, sagt er. Mag sein. Delle Chiaie sagt jedenfalls seither nichts Wesentliches zu den blutigen Attentaten zwischen 1970 und 1980.