Die Angst der Behörden vor den „Outlaws“

■ Breitseite gegen die „Abenteuer– und Erlebnispädagogik“: Bezirksregierung Lüneburg verfügt die Schließung des Vereins „Jugendschiff Corsar“ / Segeltörns für milieugeschädigte Jugendliche sollen unter „chaotischen“ Bedingungen stattgefunden haben / Trägerverein legt wegen „unhaltbarer Vorwürfe“ Widerspruch ein

Von Ralph Hartmann

Hamburg (taz) - Der „Verein Jugendschiff Corsar“ wird vorerst keine Segeltörns mehr für „milieugeschädigte“ Jugendliche organisieren können: Mit einer Schließungsverfügung machte jetzt die Bezirksregierung Lüneburg dem Beverstedter Projekt aus dem Landkreis Cuxhaven den Garaus. Vom „Ende einer langen Auseinandersetzung“ spricht in diesem Zusammenhang die zuständige Referatsleiterin der Bezirksregierung, Sellmann. Und Niedersachsens Kultusminister Oschatz (CDU) lobt zwar grundsätzlich die sogen. „Abenteuer– und Erlebnispädagogik“ als chancenreich für die Arbeit mit entwicklungs– und verhaltensgestörten Jugendlichen, sieht jedoch im Falle des „Jugendschiff Corsar“ die Idee dieser spezifischen Pädagogik „leider schlecht in die Praxis umgesetzt“. Verweisen konnte der Minister hierbei auf ein 42seitiges Papier, das vehemente Vorwürfe gegen den Verein enthält, der seit Jahren durch seine Fahrten mit dem Segelschiff „Outlaw“ nicht nur Insidern ein Begriff ist. Unfähiges Personal,Chaos auf dem Schiff? Die Fahrten in die unterschiedlichsten Regionen dieser Welt unternahm der Verein bisher mit „extrem verhaltensauffälligen“ Jungen und Mädchen, was einen erheblichen Aufwand an qualifizierter Betreuung notwendig machen mußte. Doch gerade an diesem Punkt setzt die Kritik der Aufsichtsbehörde an: Hauptvorwurf der Bezirksregierung ist die unzureichende „personell–pädagogische“ Ausstattung der „Outlaw“. So sind laut Sellmann die pädagogischen „Betreuer“ oft keine ausgebildeten Sozialpädagogen und die derzeitige Fahrt werde beispielsweise von einer „kaufmännischen Angestellten“ geleitet. Zudem gäbe es eine Fülle von Vorfällen, die bewiesen, daß die „Pädagogen“ an Bord den ihnen gestellten Situationen nicht gewachsen sind. Beispiele wurden allerdings nicht genannt. Darüberhinaus sei die Sicherheit an Bord „chaotisch“ und die finanzielle Lage des Vereins „unsicher“. Martin Fink, Leiter und Gründer von „Jugendschiff Corsar“, sieht das ganz anders. Es sei richtig, daß häufig Lehrer, Soziologen oder Psychologen anstelle ausgebildeter Sozialpädagogen die pädagogischen Aufgaben wahrnäh men, jedoch hätten sich diese Mitarbeiter, wie auch besagte kaufmännische Angestellte, schon in langjähriger pädagogischer Tätigkeit bewährt. Gegen den Vorwurf der finanziellen Unsicherheit zitiert er das Gutachten eines unabhängigen Wirtschaftsprüfers vom August 86, wonach die Bilanz des Vereins „für deutsche Verhältnisse sehr gut“ sei. Weiterhin könne er die Sicherheit der „Outlaw“ mit Klasse–Zertifikat des Germanischen Lloyd und mit Schiffspapieren der Hamburger Seeberufsgenossenschaft belegen. Für Martin Fink hat die Schließungsverfügung andere Gründe. Er sieht in ihr vielmehr eine Maßnahme gegen erlebnispädagogische Betreuung allgemein und damit ein Votum für den Strafvollzug in geschlossenen Anstalten. Dem stimmt auch Vereinsmitglied Martin Berkhouth zu: „Gerade weil die Outlaw das erste Projekt dieser Art in der BRD war, hat die Schließung symbolischen Charakter“. Berkhouth befürchtet, daß es nun auch den anderen Projekten, die dem Beispiel der „Outlaw“ gefolgt waren, an den Kragen gehen wird. Behörden pochen auf Kontrolle Diesen Vermutungen widerspricht Prof. Jörg Ziegenspeck, Herausgeber der Fachzeitung „Segeln und Sozialpädagogik“ und Experte auf diesem Gebiet, allerdings sehr deutlich: „Wenn nur zehn Prozent der Vorwürfe gegen Jugendschiff Corsar stimmen, sind Gründe für einschneidende Maßnahmen gegeben“. Die Kritik der Bezirksregierung hält er in diesem Fall für berechtigt, trotz des oft „skandalösen“ Umgangs von Behörden mit erlebnispädagogischen Vorhaben. Es sei, so Ziegenspeck, nicht davon auszugehen, daß mit der Schließung des Vereins ein Exempel statuiert werden soll. Auch sein Kollege Roeloffs vom „Jugenddorf Rendsburg“ bei Kiel befürchtet keinen Kahlschlag bei erlebnispädagischen Projekten. Die „Outlaw“–Leute, so Roeloffs, könnten sich nicht über die Auflage hinwegsetzen, nur ausgebildete Sozialpädagogen in der Heimerzie hung einzusetzen. Gerade diese Auflage habe man Ende der 60er Jahre zu Verbesserung der Lage der Jugendlichen in den Heimen durchgesetzt, um zu verhindern, daß ein „Fleischermeister plötzlich Heimleiter“ werde. Natürlich kennt man auch in Rendsburg Ärger mit den Behörden, bei denen erlebnispädagogische Jugendhilfemaßnahmen auf See nicht unumstritten sein. Die Beamten vermissen vor allem die direkten Kontroll– und Zugriffmöglichkeiten. Man kann eben einem Schiff, das gerade bei den Azoren segelt, nicht „mal eben“ das Gesundheitsamt zu Hygienekontrollen vorbeischicken. Es scheint gerade für diejenigen Beamten, die die Arbeit mit den Jugendlichen nur aus den Akten kennen, nicht einsehbar, warum gerade diese „kriminellen“ Jungen und Mädchen, „die man doch bestrafen müßte“, auf Staatskosten durch Indien fahren können, während sie selber mit ihren Kindern Urlaub im Schwarzwald machen. Schier ausgeblendet wird bei dieser Kritik, daß der angebliche „Segelurlaub“ Ergebnis der „wissenschaftlichen Entwicklung von heilpädagogischen Methoden für milieugeschädigte Kinder“ sein könnte. Kompetenzstreit auf Kosten der Jugendlichen Diesen Auftrag hatte sich jedoch das Projekt „Jugendschiff Corsar“ anläßlich seiner Gründung im Jahre 1976 selbst gegeben. Zwei Jahre später fanden schon regelmäßige Fahrten mit der „Outlaw“ statt, die auch als „schwimmendes Jugendheim zur See“ bezeichnet wird. Im Projekt aufgenommen werden Jungen und Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren, die, nachdem sozialtherapeutische Maßnahmen versagt hatten, in Jugendgefängnissen oder psychiatrischen Anstalten untergebracht worden waren. Nach einer kurzen Vorbereitungszeit geht dann eine Gruppe von 16 Jugendlichen zusammen mit fünf Seeleuten und vier Pädagogen auf Fahrt. Das Zusammenleben auf engstem Raum, der gemeinsame Lebens– und Erlebniszusammenhang bietet den Jguendlichen vielfältige Möglichkeiten, soziales Verhalten zu lernen. Zur Ausrüstung der „Outlaw“ gehören auch Kajaks, Surfbretter, Angel– und Tauchgeräte. Erlebnishunger und der sich in der oftmals in krimineller Energie entladene Drang nach „Freiheit und Abenteuer“ werden so gestillt, und die Jugendlichen lernen ihre Fähigkeiten, Möglichkeiten und Grenzen kennen. Dieses Erleben soll Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl und Mut zur Entwicklung von Zukunftsperspektiven schaffen. Nach dem Segeltörn werden die Jugendlichen in sozialpädagigischen Wohngruppen weiterbetreut und haben während dieser Zeit die Möglichkeit z. B. den Hauptschulabschluß nachzuholen oder in projekteigenen Einrichtungen eine Ausbildung zum Tischler oder Schiffsmechaniker zu beginnen. Durch die Schließungsverfügung, gegen die der Verein inzwischen Widerspruch eingelegt hat, ist die Zukunft des Projekts und das Schicksal der Jugendlichen, die zur Zeit noch mit der „Outlaw“ unterwegs sind, ungewiß. Zu hoffen bleibt, daß der Streit zwischen dem Trägerverein und der Verwaltungsbehörde nicht auf Kosten der Jugendlichen geht.