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Das Gras, die Kuh und das Cäsium

■ Der Frühling bringt eine neue Runde im Cäsium–Kreislauf / Strahlender Klärschlamm und Gülle landen wieder auf Äckern und Wiesen / Ein Ende der Becquerel–Zählerei ist nicht in Sicht

Ein Jahr nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl ist in der Bundesrepublik der Cäsium–Kreislauf geschlossen. Der ohnehin stark belastete Boden im Süden der Republik wird mit strahlender Gülle und verseuchtem Klärschlamm präpariert. Über Gras, Heu, Kuh und Milch führt der Weg in unsere Mägen zurück. Von da wieder in die Kläranlage...

Wer erinnert sich noch an den Run auf Tiefgekühltes von Aldi nach dem Tschernobyl–Fallout, an die Spinat–Vermeidungsstrategien und das mulmige Ausspähen von Gemüse und Obst aus „sicheren“ Ländern von Chile bis Südafrika? Längst gegessen! Das Jod ist zerfallen und die becquerel–Zählerei von Cäsium ist die Angelegenheit von Spezialisten geblieben. Trotz der bösen Halbwertszeiten hat sich in uns die Gewißheit durchgesetzt, daß die Zeit auch die strahlenden Teilchen zur Strecke gebracht hat, und der Spuk längst vorüber ist. Doch inzwischen zeigt sich der Unterschied zwischen Wunschdenken und Halbwertszeit. Das radioaktive Cäsium, das erst im Jahre 2016 zur Hälfte zerfallen sein wird, droht zum ständigen Begleiter der nächsten Jahre zu werden, der Cäsium– Kreislauf ist geschlossen, eine Beseitigung der strahlenden Teilchen findet nicht statt. Im Gegenteil: Durch das Ausbringen von Gülle und Klärschlamm werden die Böden zusätzlich verseucht. „Wir satteln noch drauf“, erkennt Markus Winterstein vom Allgäu– Institut für angewandte Ökologie in Wangen. Vergeblich warnen die Alternativ–Wissenschaftler und das Münchner Umweltinstitut Bauern und Behörden vor dem bedenkenlosen Gülle–Einsatz, den sie jetzt im Frühling fast täglich beobachten können. In der Gülle konzentriert sich das Cäsium, das die Kühe über das verstrahlte Futter aufgenommen haben. Nur zwei bis drei Prozent der strahlenden Nuklide werden mit der Milch „ausgeschieden“ oder bleiben in Knochen und Fleisch der Tiere zurück. Der größte Teil (rund 97 Prozent) findet sich in der Gülle wieder, die jetzt auf Feldern und Wiesen versprüht wird. Schon im Februar - noch vor dem Ausbringen der Gülle - hatte das Allgäu–Institut alarmierende Ergebnisse von Boden–Messungen veröffentlicht. Das Institut hatte 40 Proben aus dem Allgäu, Oberschwaben, Vorarlberg und der nördlichen Schweiz untersuchen lassen. Resultat: „eine unerwartet hohe Belastung in allen Gebieten“. Die Werte schwankten zwischen 24.000 und 142.000 becquerel Cäsium pro Quadratmeter. Zum Vergleich: die durchschnittliche radioaktive Belastung der Böden in der BRD lag vor Tschernobyl bei 1.300 bq. Von Memmingen über Leutkirch, Vogt nach Lindenberg, Oberstdorf sowie im Vorarlberg und in der nördlichen Schweiz ermittelten die Allgäuer eine „Zone zwischen 40.000 und 70.000 bq/qm“, deren radioaktive Belastung damit um bis zu 50mal höher war als vor Tschernobyl. Die strahlende Spitze lag im Raum Kaufbeuren, Kempten, Sonthofen, Füssen, mit Einzelwerten zwischen 90.000 und 142.000 bq. Und auch im weniger belasteten Raum Ravensburg/Friedrichshafen wurden noch durchschnittlich 28.000 bq gemessen, 20mal mehr als vor dem Fallout aus der Ukraine. Sämtliche Proben wurden von „Intensiv–Wiesen und -Weiden“ genommen, die für die Milchwirtschaft genutzt werden. Mit dem im Frühjahr einsetzenden Wachstum der Natur wird das Cäsium die nächste Station des Kreislaufs erreichen: vom Boden in die Pflanze. Die Pflanzen „ge hen mit dem Cäsium nicht anders um als mit einem Dünger“ (Winterstein), sie „verwechseln“ es mit Kalium und nehmen es auf. Um die Menge der Cäsium–Aufnahme der Pflanzen auszurechnen, gibt es sogenannte Transfer– Faktoren (Weitergabe–Faktoren) für Nuklid und Pflanze. Diese hängen wiederum von der Bodenart, von der Düngung, von Luftfeuchtigkeit, Temperatur etc. ab und besitzen eine riesige Spannbreite. Exakte Aussagen, wieviel Cäsium denn nun das Gras auf den verseuchten Wiesen tatsächlich aufnehmen wird, sind deshalb schwer zu treffen. Legt man einen durchschnittlichen Transfer–Faktor zugrunde, wäre das Gras des ersten Schnitts in diesem Sommer in den hoch belasteten Zonen mit 57 bq/ Kilo belastet. Bei einem Wassergehalt von 80 dies für das daraus gewonnene Heu einen Wert von 285 bq. Daraus resultiert wiederum eine Belastung der Milch von 20–70 bq. Diese Hochrechnungen des Allgäu–Instituts beinhalten große Schwankungen. Die wirklichen Werte könnten leicht nur halb so hoch sein, im ungünstigsten Fall aber auch das Doppelte ausmachen. Düsteres Fazit des Institus: „Wir können somit für Frühsommer und nächsten Winter mit Belastungen der Milch rechnen, die ähnlich hoch liegen, wie im Mai/ Juni 1986 nach Tschernobyl.“ Die zusätzliche Erhöhung der radioaktiven Belastung der Böden durch das Aufbringen von Gülle und Klärschlamm ist in die Zahlen der Wangener Wissenschaftler noch nicht einmal eingegangen. Dazu macht das Münchner Umwelt–Institut folgende Rechnung auf: Gülle–Messungen aus dem Chiemgau ergaben eine Cäsiumaktivität für Flüssig–Gülle von rund 1.700 Becquerel. Geht man davon aus, daß - wie in der Landwirtschaft üblich - drei Liter Gülle pro Quadratmeter versprüht werden, ergibt sich eine Quadratmeter–Belastung von 5.100 bq, macht bei zweimaligem Gülle– Einsatz rund 10.200 bq, die zur bestehenden Verseuchung noch addiert werden müssen. Mit dem Versprühen der Gülle wird bereits die zweite Möglichkeit, den Kreislauf des Cäsiums zu unterbrechen, ausgelassen. Die erste Möglichkeit lag in der Beseitigung der verseuchten Heuernte vom Sommer 86. Eckardt Krüger vom Münchner Umwelt–Institut: „Wer sich mit diesen Dingen hier beschäftigt, kann vor der Entwicklung nur warnen“. Gewarnt hat Krüger auch in einem in dieser Woche vorgelegten Gutachten zur Klärschlamm–Ausbringung. Im vergangenen Jahr wurden bei Klärschlamm–Messungen Spitzenwerte bis zu 200.000 Becquerel/Kilo (in Schrobenhausen) gemessen. Aber auch in diesem Jahr wurden in Bayern Klärschlamm–Proben bis 5.200 bq ermittelt. Während die Strahlenschutzkommission das Endprodukt aus den Kläranlagen für unbedenklich hält und den Einsatz als Dünger absegnete (“Unwesentliche Erhöhung“ des durch Tschernobyl „ohnehin kontaminierten Bodens“), warnte selbst eine Expertise aus der Kernforschungsanlage Jülich vor der leichtfertigen Klärschlamm–Düngung vor allem auf Grünflächen als „nicht mehr vertretbar“. Die bayerische Landesregierung ficht das alles nicht an. Ob Gülle, Klärschlamm oder Molke: Sie sieht überall „vernachlässigbare Probleme“. Manfred Kriener

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