: Der Super–GAU lauert im Hinterkopf
■ Vergessen hat ihn niemand, den Größten Anzunehmenden Unfall in der Ukraine / Fatalismus überwiegt / „Irgendwann schafft uns die Technik sowieso“ / Stichproben von Manfred Kriener
Tatort Brunnenstraße im ehemals roten Berliner Arbeiterbezirk Wedding: Passanten suchen in der neuen Einkaufszeile nach Sonderangeboten und nach ihrer Befindlichkeit gegenüber dem Super–GAU. Hat der Jahrestag der Reaktorkatastrophe eine Bedeutung für sie? Hat der Unfall ihren Alltag verändert? Wird ein neuer GAU folgen, vielleicht bei uns? Der taz–Reporter nervte mit Fragen zum Jahr „danach“. Die Kraftwerkunion, einziger deutscher AKW–Hersteller und Speerspitze der Zunft, hat ihre Antwort auf den Super–AU längst gegeben: Alle Kraft voraus für eine neue Angriff auf die Köpfe der Bürger zugunsten der „friedlichen Nutzung der Kernenergie“.
Verkäufer im HiFi–Laden, Anfang 40, heller Anzug, freundlich: Nee, für mich hat das überhaupt keine Bedeutung. Nach dem, was uns erzählt wird, dürfte so was ja auch nicht mehr passieren, zumindest im Westen. Im Osten weiß ich nicht. taz: Und wenn doch? Das wäre furchtbar, aber die können es sich doch gar nicht leisten, daß sich solch ein Unglück wiederholt. Alter Mann, rauchend auf einer Bank vor dem Supermarkt, mürrisch: Ich denke nicht dran. Nein. Als es damals passiert ist, war ich vielleicht ein bißchen beeindruckt, aber sonst gar nichts. Da ist doch die Regierung schuld, die das veranlaßt hat. Die Russen haben ja keinen Pfennig gegeben, um das wiedergutzumachen. Die Schweizer haben ja auch gezahlt wegen dem Gift im Rhein, aber die Russen nichts. Dafür kaufen die Butter von uns für 20 Pfennig das Kilo. In meinem Alter ist das sowieso egal. Ich bin 77. Was soll mir denn noch passieren? Ich kann nur noch die Augen zumachen. Alte Dame, vom Einkaufen erschöpft, auf der Bank sitzend: Natürlich denke ich da dran. Die erzählen uns ja dauernd davon. Aber da wird noch mehr passieren. Bei uns ist ja auch schon ein paar Mal so was ausgeströmt, das liest man doch immer wieder. Haben Sie sich durch den Unfall bedroht gefühlt? Na ja, in meinem Alter hat man ja sowieso immer was. Aber einesteils schon. Ich habe Verschiedenes nicht gegessen, Gemüse und was sonst noch aus der Erde kam. Aber das ist ja auch Blödsinn. Halten Sie AKWs für sicher? Nee, die sind nicht sicher. Vielleicht schaffen die es ja mal, das alles abzuschalten. Es heißt ja immer, in den 90er Jahren, weil das nicht so schnell geht. Ich nehme schon an, daß die es schaffen werden. Die arbeiten jetzt mehr mit Sonnenenergie, und vielleicht schafft man es auf diese Art. Haben Sie Angst, daß solch ein Unfall nochmals passieren könnte? Ja, natürlich. Da denke ich oft dran. Man möchte ja nicht, daß man, wenn so was passiert, auf solch eine Art ums Leben kommt. Da hat man sich sein ganzes Leben lang gequält und dann soll man so sterben mit, wer weiß, was für Schmerzen. Junge Frau, Anfang 30, selbstbewußt, geschminkt, gestylt: Meine Einstellung zur Atomenergie war vor dem Unfall schon sehr kritisch, das hat sich nur bestätigt. Verändert hat sich bei uns nichts. Nur daß ich jetzt noch mehr darauf achte, was meine Tochter ißt. Werden Sie am Sonntag an den Unfall denken? Vielleicht nicht unbedingt am Sonntag, aber ich denke oft daran. Mit welchen Gedanken? Mit kulturpessimistischen Gedanken. Wohlbeleibter Mann, Anfang 50, ausländischer Akzent: Ich meine, der Unfall hat für jeden eine Bedeutung. Ich hoffe, daß in der Zukunft alles so weit gesichert wird, daß es keine Gefahr mehr gibt. Theoretisch kann man das ja auch annehmen, aber praktisch ist es so, daß, wenn es einmal Bumms gemacht hat, kann es immer wieder Bumms machen. Am besten wäre es natürlich, wenn man diese Sachen abstellen könnte. Man kann ja die Stromenergie auch anders finden. Es gibt viel Wasser, es gibt Wind, die Kohle ist auch noch nicht ausgeschöpft. Da kann man noch viel mit antreiben. Die Atomkraftwerke sind eine schreckliche Sache, und dort wird nicht nur Strom produziert, das können Sie mir glauben. Hat Sie der Unfall in Ihrer Gesundheit beeinträchtigt? Ich hatte einen Herzinfarkt, das war viel schlimmer, aber man muß an die Menschen denken, die dort ums Leben gekommen sind oder die sich durch die Strahlung das Leben verkürzt haben. Junger Mann, Anfang 30, beim Fensterputzen vor einem Restaurant: Natürlich hat das eine Bedeutung für mich, insofern das wieder gezeigt hat, wie machtlos man gegen solche Sachen ist, die eigentlich völliger Wahnsinn sind. Mich persönlich hat der Unfall nicht beeinträchtigt. Ich konnte ja alles machen, was ich wollte. Aber das Problem ist, daß man die Strahlen nicht sieht. Beim Essen hab ich natürlich aufgepaßt in den ersten Tagen. Werden Sie am Sonntag an Tschernobyl denken? Bestimmt nicht. Da mach ich meinen Laden hier auf, und da werde ich den Kopf voll haben. Aber man denkt ja immer dran. Wenn man was von Becquerel hört, woran denkt man dann? An Tschernobyl. Klar. Halten Sie das für übertrieben? Nee, für untertrieben. Da wird soviel Mist gemacht mit den Becquerels. Wenn die Becquerels nicht stimmen, werden einfach die Richtwerte raufgesetzt und damit hat sichs. Manchmal bin ich richtig fassungslos, was sich die Leute erlauben, ohne überhaupt rot zu werden dabei. Junge Frau, Anfang 20, blonde Locken: Nein, da denke ich nicht dran. Man war ja auch nicht direkt betroffen. Sicher war das tragisch gewesen. Man wurde ja haufenweise informiert, und es gab viel Verwirrung. Aber ich mache mir da keine Gedanken mehr. Das ist halt passiert, und das kann kein Mensch mehr ändern. Ob das meine Gesundheit beeinträchtigt hat, weiß ich nicht. Mein Leben hat sich jedenfalls nicht verändert. Ich esse dasselbe und lebe wie immer. Sicher kann so was nochmal passieren. Es wird auch nochmal passieren. Haben Sie Angst davor? Eigentlich nicht direkt. Wird schon schiefgehen? Die Technik wird uns eines Tages sowieso schaffen. Junger Mann, Anfang 20, Ohrring, Lederjacke: Ob das ne Bedeutung hat, weiß ich nicht. Aber was da abgelaufen ist, ist Scheiße genug. Ich lebe weiter wie bisher, guck schon mal genauer hin, was ich da esse, aber sonst... Das Zeug ist überall drin. Da ist es fast egal, was du ißt. Junges Mädchen, 16 bis 18, mit Schultasche, gehbehindert: Unsere Familie hat ihre gesamte Ernährung umgestellt, und der Unfall hat mich schon sehr betroffen gemacht. Ich denke die ganze Zeit daran, und ich habe mir auch die Tschernobyl–Filme angesehen. Meine ganze Familie hat sich sehr damit beschäftigt. Auch was Energiesparen angeht. Ich habe auch schon vor Tschernobyl geglaubt, daß Atomenergie keine Zukunft hat, aber nicht mit derselben Konsequenz. Man muß schon damit rechnen, daß ein ähnlicher Unfall nochmal passiert. Davor habe ich auch Angst. Verkäuferin von „Kaisers“, Ende 20: Im Grunde hat man alles schon wieder vergessen. Wenn man jetzt Fernsehen guckt, wird man vielleicht wieder dran erinnert. Dann macht man sich auch wieder mehr Gedanken. Gedanken worüber? Na, über die ganze Umwelt, und wie gefährlich das alles ist. Bei uns soll ja alles so sicher sein, aber ich weiß nicht, ob man das glauben kann. Im Hinterkopf hat man ja immer seine Sorgen, hoffentlich passiert das nicht nochmal bei uns. Da haben Sie Schiß davor? Wer hat da keinen Schiß davor. Straßenkehrer, Ende 40, mit rotem Schutzanzug, macht Pause: Nee, nee, da denke ich nicht dran. Überhaupt nicht. Was soll ich mir Gedanken machen über die ganze Politik. Ob ich mich so vergifte oder so. Könnte solch ein Unfall auch hier passieren? Wenn er dort passiert ist, kann er auch bei uns passieren, warum nicht. Überall. Angst hat man jeden Tag vor allen möglichen Sachen. Warum gerade wegen dem Reaktor?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen