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Das Zauberwort „Glasnost“ geht um

■ Der heute in Paris lebende sowjetische Schriftsteller Andrei Sinjawski hat sich mit Ursprung und Bedeutungen des Wortes auseinandergesetzt

Im Westen ist ein neues russisches Wort aufgetaucht - „glasnost“ - und gleich so international geworden wie vorher nur Wodka, Kolchose, Gulag. Allerdings wissen die westlichen Leser nicht immer, was es heißt. Wegen der klanglichen Ähnlichkeit mit Wörtern ganz anderer Bedeutung wie dem romano–germanischen glas, glass, glace und aus vorschneller Gleichsetzung sowjetischer Probleme mit westlichen, hat man „glasnost“ oft mit „Transparenz“ übersetzt. „Glasnost“ kommt vom russischen „golos“, „Stimme“, und meint Freiheit des Worts, der Presse, der Information, Öffentlichkeit der Information über alles, was innerhalb und außerhalb des Landes geschieht, über alles, was gesellschaftlich relevant ist: Regierung, Statistiken, Handhabung des Rechts, Informationsmittel, Gefängnisse, Eisenbahn– und Flugzeugunglücke. „Glasnost“ setzt auch die Freiheit voraus, seine eigene Meinung auszudrücken, umstrittene Fragen zu vertiefen und sie offen zu diskutieren. Der Akzent liegt in „glasnost“ also nicht so sehr auf der „Transparenz“ als auf der „Existenz“ der Information und der freien öffentlichen Meinung. Doch unter dieser Prämisse, und abgesehen von der etymologischen Ungenauigkeit, gibt der westliche Begriff für „glasnost“ letztlich das Wesentliche wieder. Chronischer Mangel an Freiheit Damit verglichen hat das russische Wort „glasnost“ einen exotischen Klang. Wo allzusehr über „glasnost“ gesprochen, nach ihr gerufen wird, muß mit der Freiheit etwas im argen liegen. Die sowjetische Gesellschaft ist schwerkrank, nicht im Sinne einer äußeren, sichtbaren Krankheit, sondern anderer, tieferer Übel. Es sind nicht wenige, und sie sind verschiedener Art, wenn auch alle so oder so mit dem chronischen Mangel an Freiheit verknüpft, der in dieser Gesellschaft seit nunmehr siebzig Jahren herrscht. Und die Tatsache, daß Gorbatschow jetzt von der Notwendigkeit der „glasnost“ spricht und daß dieses „neue Wort“ in der ganzen Welt Beachtung findet, zeugt von den nicht eben beneidenswerten Bedingungen des sowjetischen Lebens. Derselbe Gorbatschow freilich, der nach eigenem Bekunden bei seiner Suche nach einem „Weg“ aus der Misere täglich Lenin liest und wiederliest, weiß auch, daß Lenin selbst der „Glasnost“ mit einem Dekret gleich nach der Revolution ein Ende setzte, und weiß, daß diese Unterdrückung der Freiheit für Gründung und Entwicklung des Sowjetstaats Voraussetzung war. Als Ergebnis so vieler Jahre kommunistischer Parteiherrschaft ist aus dem Volk schließlich ein „Idealvolk“ geworden, das gelernt hat, „bezglasnyj“, „ohne Stimme“ zu leben: in Passivität, Reglosigkeit, Nachlässigkeit, Abwesenheit jeglichen persönlichen oder sozialen Initiativgeistes. Wie schon Karl Marx sagte: Sklavenarbeit zahlt sich nicht aus. Daher die Einsicht Gorbatschows: Ohne „glasnost“ gibt es kein Vorwärtskommen. Die ersten Mahner der „glasnost“, der Freiheit in der sowjetischen Gesellschaft, waren freilich nicht Gorbatschow und seine Anhänger, sondern die „Dissidenten“, die, weil sie „glasnost“ im Munde geführt und in Anspruch genommen hatten, verurteilt und in die Gefangenenlager gesteckt wurden. Und nun will dieselbe Staatsmacht, die diese „Dissidenten“ vor die Gerichte gestellt hat, „glasnost“ zur Norm der Gesellschaft erklären. Aber niemand weiß genau, wie sich „glasnost“ ausnehmen soll, um der sowjetischen Regierung zu nützen, und wie lange „glasnost“ währen mag. Das Wort als zauberisches Element In „glasnost“ schwingt jener magische Unterton mit, der bei uns gewisse Wörter begleitet. Gewöhnlich versteht man das „Wort“ bei uns als Wirklichkeit, als Ding, das auf derselben Stufe steht wie die „Fakten“, wenn es nicht gar einer konsistenteren Wirklichkeit zugerechnet wird. Für diese Anschauung hat das russische Volk seit den ältesten Zeiten viele Sprichwörter geprägt: „Das Wort ist kein Sperling, wenn es dir davonfliegt, wirst du es nicht wieder einfangen“ (und das, obwohl auch ein entflogener Sperling nicht so leicht wieder zu greifen sein dürfte, aber beim Wort ist es noch schwieriger). „Was du mit der Feder geschrieben hast, kannst du mit dem Beil nicht zerschlagen“ (es ist unzerstörbar). Diese Idee des Worts als zauberisches Element hat zur Blüte der russischen Literatur im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts beigetragen. Der Schriftsteller befand sich im Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit. Man hing an seinen Lippen, als wäre er ein Orakel, ein Prophet, ein Zar oder ein Heerführer. Und der Schriftsteller selbst betrachtete sich zuweilen als Vehikel übernatürlicher Kräfte. Er nahm die Bürde übergroßer Verantwortung für das Schicksal seines Volks auf sich, machte sich zum Helden, führte ein streng asketisches Leben voller Verzicht und unausdenklicher Beschwernisse, als fürchtete er die Energie, die im eigenen Wort vibrierte und die er aufs Heil zu lenken suchte. Dafür stehen die Schicksale von Schriftstellern verschiedener Generationen und Tendenzen: Gogol, Tolstoi, Majakowsky, Solschenyzin. Magisch und gefährlich Genau daher rühren aber auch die Schrecken einer Zensur, die sich unter der Sowjetherrschaft den Herkulessäulen gleich verengte. Wieviele Schriftsteller hat dieses Regime nicht zerbrochen und ermordet! So ist das Wort für uns etwas Magisches und zugleich Gefährliches, das von Regierung und Partei streng und aufmerksam kontrolliert wird. Die Regierung selbst ist nun allerdings keineswegs sprachlos, sie pflegt einen geheimnisvollen Gebrauch des Worts, stets bemüht, der Wirklichkeit den Dämon der Gleichgültigkeit oder Unbeweglichkeit auszutreiben. Mit rein verbalen Mitteln haben wir uns den „Sozialismus“, die „Sowjets“, die „Demokratie“, die „Diktatur des Proletariats“ geschaffen. Das blanke Wort war die Quelle unseres „besseren und angenehmeren Lebens“ (Stalin hatte diese Parole ausgegeben, als die Leiden gerade am unmenschlichsten waren). Rein verbal waren die Stimuli, mit denen wir uns dazu antrieben, „Amerika einzuholen und zu übertreffen“. Wir haben versucht, den „Weltfrieden zu erhalten“, wenig zählen da die Kriege, in die wir hier und dort verstrickt sind. Mithilfe der „glasnost“ macht sich nun auch Gorbatschow daran, Berge zu versetzen. Immerhin besser, als die Leute zu eliminieren oder ins Gefängnis gehen zu lassen, weil sie Wörter gebraucht haben, die der Partei nicht behagen. So Gott will! Gegrüßt sei Gorbatschow für seinen Mut, das Wort „glasnost“ auszusprechen, das verheißungsvolle, kühne Zauberwort. Warum nicht? Warum nicht noch einmal die magische Kraft der russischen Rede ausprobieren? Sagen wir „glasnost“, und das Korn wird sprießen. Wiederholen wir „glasnost“, und das Korn wird sprießen. Wiederholen wir „glasnost“ im Chor, und die Industrie wird anfangen zu laufen. Was die Fremden auch immer denken mögen, ich glaube an die Magie der russischen Sprache. Andrei Sinjawski Gekürzt aus: Corriere della Sera, 18.3.1987. Aus dem Italienischen von Thierry Chervel

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