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Die Angst geht um

„Wir erklären hiermit: 1. Ich bin Angehöriger des Öffentlichen Dienstes. 2. Ich war noch nicht bei Herrn Perschau. 3. Ich werde da auch nicht hingehen. 4. Ich wähle diesmal Sozialdemokratie, damit die CDU nicht mit dem Öffentlichen Dienst herumspielen kann.“ Mit dieser Anzeige in verschiedenen Hamburger Tageszeitungen, unterzeichnet von einer langen Reihe Namen aus dem Öffentlichen Dienst der Stadt, reagierte die SPD auf eine Ankündigung des CDU–Spitzenkandidaten Perschau, bei ihm würden städtische Beamte schon seit Tagen die „Klinke putzen“, um ihre zukünftige Karriere abzusichern. Tatsächlich geht in Hamburg die Angst um. Plötzlich werden sich Hunderttausende städtische Bedienstete, Zigtausende in senatsfinanzierten Sozial– und Kulturprojekten, und die Eltern von Kindern in subventionierten Kinderläden, der drohenden Gefahr bewußt, daß ein Machtwechsel an der Elbe für sie den Verlust des Arbeitsplatzes oder ihrer finanziellen Begünstigungen bedeuten könnte. Entsprechend nahm das öffentliche Bekenntnis zur SPD zu, bekam die Kampagne der Sozialdemokraten noch einmal einen Ruck. Denn ein Sieg von CDU/FDP wäre mehr als ein normaler Regierungswechsel. In Hamburg geht es am Sonntag um die Existenz eines bundesweit einzigartigen, seit 1918 mit lediglich zwei Unterbrechungen (Faschismus und Bürgerblock von 1953 - 57) funktionierenden politiökonomischen Modells, welches Ex–Kanzler Schmidt einst als „historisches Bündnis zwischen Kaufleuten und Arbeitern“ definierte. In der Stadtrepublik gaben die Kaufleute schon immer den politischen Ton an. Übertriebener Nationalismus und parteipolitische Fixierung sind ihnen ebenso fremd wie harter Klassenkampf: Das Kontor kennt keine Arbeiter, sondern beschäftigt vor allem Angestellte, die kaum gewerkschaftlich organisiert sind. Die Erfolgsstory der Sozialdemokratie bestand darin, für gute wirtschaftliche Rahmenbedingungen zu sorgen und im Gegenzug überdurchschnittlich hohe Löhne für die Industriearbeiter herauszuholen. Sichtbarer Ausdruck dieses historisch gewachsenen Arrangements: Rathaus, Börse und Handelskammer sitzen alle unter einem Dach. Weder CDU noch FDP konnten in diese Machtallianz zwischen SPD und Kaufmannskapital in der Vergangenheit jemals ernsthaft einbrechen. „Die Herren von der Elbchaussee“, der ersten Adresse in Hamburg, „geben für ein Abendessen mit Dohnanyi ihre Gesinnung an der Garderobe ab“, stöhnte vor nicht allzulanger Zeit CDU–Spitzenkandidat Perschau noch verzweifelt. Doch die beiden vernichtenden Wahlniederlagen der SPD innerhalb des letzten halben Jahres haben deutlich gemacht, daß ein Strukturwandel in der Stadt die historischen Allianzen obsolet gemacht hat. Die wirtschaftliche Elite wird in zunehmendem Maße nicht mehr durch die alteingessenen Kaufleute dominiert, und die Adressaten des Sozialstaats orientieren sich zunehmend in Richtung Grün. So bleibt trotz des klimatischen Aufwinds für die SPD überaus fraglich, ob die Appelle an Nostalgie und Besitzstandswahrung ausreichen werden, ein Desaster für die SPD zu verhindern. Um nichts unversucht zu lassen, hat die SPD in der Woche vor der Wahl noch die Übernahme von 41.600 Neue– Heimat–Wohnungen in den städtischen Besitz verkündet, um die 400.000 Bewohner zu einem „Sozialstaat–Votum“ zu bewegen. Zusammen mit den 70.000 Nichtwählern im Januar und 10.000 bis 20.000 Stimmen von der GAL, so das Hoffnungskalkül, könnte es noch einmal für die stärkste Fraktion reichen. Florian Marten

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