: Boykotteure im Staatsschutz–Computer
■ Veranstaltungen zur Volkszählung werden in Baden–Württemberg systematisch von der Polizei observiert / Kfz–Zeichen und Referentennamen werden abgespeichert und an das Bundeskriminalamt und den Verfassungsschutz weitergeleitet
Aus Stuttgart Dietrich Willier
Mit Faschisten hat Bundeskanzler Kohl Volkszählungsboykotteure jüngst verglichen, sein Innenminister scheint sie in das Ressort „Terroristen“ einzuordnen. In Baden–Württemberg werden Veranstaltungen zur Volkszählung von der Polizei systematisch observiert, Kraftfahrzeug–Kennzeichen mit den Dateien der Polizei und dem Kfz–Meldecomputer in Flensburg abgeglichen, im Allgemeinen Polizei–Informations–System (APIS) abgespeichert und an das Bundeskriminalamt und den Bundesverfassungsschutz weitergeleitet. Die Polizeidienststellen des Landes sind aufgefordert, alle Erkenntnisse in Sachen Volkszählungsboykott einer eigens eingerichteten Nachrichtenstelle am Landeskriminalamt mitzuteilen. Das berichtete am Dienstag abend die baden–württembergische Landesdatenschutzbeauftragte Dr. Ruth Leutze. Anderen Informationen zufolge soll zudem eine Sonderstaatsanwaltschaft eingerichtet worden sein. Bereits vor drei Jahren waren in einem vergleichbaren Fall die Daten von Mutlanger Blockadegruppen in die Computer von BKA und Bundesverfassungsschutz eingespeist, nach heftiger Kritik der Landesdatenschutzbeauftragten aber wieder gelöscht worden. Im vorliegenden Fall aber, so Rezzo Schlauch, Landtagsabgeordneter der Grünen und Anwalt, handele es sich bei einem Boykott oder Boykottaufruf nicht einmal um eine sogenannte „strafbare Hand lung“, sondern um eine schlichte Ordnungswidrigkeit. Wer es bisher noch verneint habe, so Schlauch, müsse jetzt von einem Polizeistaat sprechen. Erste Informationen über die Praktiken des baden–württembergischen LKAs hatte Ruth Leutze bereits Ende April erhalten. Fortsetzung auf Seite 2 Bei einem Besuch im LKA wurden ihr entsprechende Listen und Kar teien vorgelegt, nach denen bis dahin wenigstens 134 Personen abgespeichert waren. Die Namen von Personen, die Informationsstände zur Volkszählung beantragten, so der grüne Abgeordnete, wanderten ebenso grundsätzlich in die Dateien wie alle Namen von Referenten auf Informationsveranstaltungen. Ein Referent war nach Auskunft der Landesdatenschutzbeauftragten sogar erfaßt worden, obwohl er sich ausdrücklich von einem Boykott der Volkszählung distanziert hatte. Das Landeskriminalamt, so Frau Leuze, habe mittlerweile „Lagebilder von Personen, die zum Boykott aufrufen“, erstellt und an das Bundeskriminalamt und das Bundesamt für Verfassungsschutz weitervermittelt. Nach Auskunft des Abgeordneten Schlauch sind von der polizeilichen Observation auch zahlreiche Unbeteiligte betroffen. So würden zum Beispiel weiträumig alle Fahrzeuge um einen Veranstaltungsort erfaßt. Erst kürzlich, so Schlauch, habe der baden–württembergische „Überwachungsminister“ (Innenminister) Dietmar Schlee, stolz bestätigt, daß jeder zehnte Bürger in einem Polizeicomputer gespeichert sei. Mit einem Dringlichkeitsantrag an den Ständigen Ausschuß des Stuttgarter Landtags hatte die baden–württembergische Datenschutzbeauftragte Dr. Ruth Leuze noch am Dienstagabend versucht, wenigstens noch die gravierendsten datenschutzrechtlichen Mängel bei der laufenden Volkzählung zu auszuschalten. Umsonst, ändern wird sich deshalb nichts. Polizei– und Finanzbeamte, Mitarbeiter von Sozial– und Jugendämtern, Wohngeldstellen und Arbeitsämtern, wie auch die direkten Nachbarn dürfen in Baden–Württemberg nach dem Willen der CDU–Mehrheitsfraktion auch weiterhin „Zähler“ sein. Begehungslisten der Zähler enthalten neben Namen und Anschrift eines Bürgers weiterhin zusätzliche Angaben. Dem Abschottungsgebot in Erhebungsstellen kleiner Gemeinden wird auch weiterhin nicht Rechnung getragen.
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