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„Barbie war verachtenswert und mittelmäßig“

■ Zeugenaussagen von Überlebenden im Barbie–Prozeß machen das Tribunal konkret / Der Sohn eines Opfers wollte Barbie ermorden, fand ihn dann aber „verachtenswert, voller Widersprüche und eher mittelmäßig“, so daß er nicht mehr genug Haß zur Rache hatte

Lyon (afp) - Mit den Schilderungen von vier Zeugen - Überlebende der Judenverfolgung - hat der Schwurgerichtsprozeß gegen den ehemaligen Gestapo–Chef Klaus Barbie in Lyon am Mittwoch eine Wende vom Abstrakten zum Konkreten genommen. In den Zeugenstand traten zwei Frauen, die den 1943 von der Barbie unterstellten Gestapo in Lyon organisierten Überfall auf die „Union Generale des Israelites en France“ (UGIF) miterlebt hatten und zwei Männer, die als Nebenkläger auftreten und durch die UGIF–Razzia Angehörige oder enge Freunde verloren hatten. Bei der Aktion waren 86 Menschen verhaftet worden, von denen nur drei überlebten. Barbie nahm auch am achten Verhandlungstag nicht an dem Prozeß teil. Der heute 48jährige Michel Codot Goldberg, Direktionsberater in Paris, war vier Jahre alt, als sein Vater Joseph, der ehrenamtlich für die jüdische Hilfsorganisation UGIF tätig war, in die Hände der Gestapo fiel. Er selbst verdankt sein Leben nur dem Umstand, daß der 9. Februar 1943 ein kalter Wintertag und seine Stiefel beim Schuster waren: Sein Vater wollte ihn eigentlich an diesem Tag mit zur UGIF nehmen, seine Mutter befürchtete jedoch, das Kind könne sich nasse Füße holen und erkälten. Joseph Goldberg, ein aus Polen stammender Jude, der 1928 französischer Staatsbürger geworden war, starb in Auschwitz. Als sein Sohn 1974 erfuhr, daß Klaus Barbie, unter dessen Kommando die UGIF–Aktion gestanden hatte, in Bolivien lebte und daß sich La Paz weigerte, den „Schlächter von Lyon“ an die französische Justiz zu überstellen, reiste er nach La Paz mit dem Ziel, den Mann umzubringen, der seinen Vater und Tausende von anderen Menschen auf dem Gewissen hatte. Er traf Barbie, dem gegenüber er sich als Journalist ausgab, im Frühjahr 1975. Er fand ihn „verachtenswert, voller Widersprüche und eher mittelmäßig“ und gab seine Mordpläne auf: „Ich habe die Aufwallung von Haß nicht gespürt, die nötig gewesen wäre, um ihn kaltblütig niederzumachen.“ Zudem habe er den Eindruck gehabt, die französischen Stellen hätten ihre Bemühungen um die Auslieferung absichtlich scheitern lassen und er hätte den dafür Verantwortlichen mit einem Anschlag auf Barbie möglicherweise einen Dienst erwiesen. Michel Codot Goldberg sprach in seiner Aussage auch von der „Abstraktheit“ des Todes von Deportierten: „Es gibt kein Datum, keine Leiche, keine Bestattung, kein Grab. Man hat uns der Trauer beraubt.“ Am Donnerstag sollten die Zeugenvernehmungen fortgesetzt werden. Der 43 Jahre alte Franzose Christian Didier, der am Dienstag mit einem geladenen Revolver in die Gefängniszelle des ehemaligen Lyoner Gestapo–Chefs Klaus Barbie vordringen wollte, ist am Donnerstag wegen unerlaubten Waffenbesitzes und Urkundenfälschung unter Anklage gestellt worden. Obwohl er behauptet hatte, er wolle Barbie töten, wurde keine Anklage wegen eines Attentatversuches erhoben. Didier, der sich als Arzt Barbies ausgegeben hatte, ist wie der 73jährige ehemalige SS–Offizier im Saint–Joseph–Gefängnis von Lyon inhaftiert.

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