K O M M E N T A R Volkszählung - ein Spiel ohne Sieger

■ Die Zählung der Köpfe ist zur Gehorsamsprobe verkommen / Zweite Runde steht bevor

Heute ist der Tag, an dem das Leben in der Bundesrepublik für einen Augenblick stillstehen sollte, um den staatlichen Planern ein genaues Bild von ihrem Volk zu geben. Doch der 25. Mai 1987 wird als Symboldatum den Makel einer der zugleich lächerlichsten und deutlichsten staatlichen Machtproben tragen. Wenn es schon der Tag der „Volks–Erhebung“ ist, dann allerdings in einem ganz anderen Sinne, als es sich die Datensammler vorgestellt haben. Der Anteil derer, die sich, aus welchen Gründen auch immer, nicht zählen lassen mögen, ist so groß geworden, daß die Brauchbarkeit der von der Volkszählung erwarteten Datensammlung längst infrage gestellt ist. An die Stelle statistischer Verwertbarkeit ist auch bei den Betreibern der Volkszählung eine in ihren Dimensionen geradezu aberwitzige Gehorsamsprobe getreten, die mehr rebellischen Geist geweckt hat, als man irgendwo schlummernd wähnte. Jetzt geht es den Promotern des milliardenschweren Staatsunternehmens nur noch darum, die ganze Aktion ohne wesentlichen Gesichtsverlust in der Öffentlichkeit durchzuziehen und die bloße Durchführung als „Erfolg“ verkaufen zu können. Kein Argument der Kritiker konnte den Zensus stoppen. Selbst Bedenken von Fachleuten, die sich nicht gegen die Intention der Volkszählung selbst richteten, sondern nur auf Probleme der Durchführbarkeit hinwies, blieben unbeachtet. Jetzt stößt das Mammutprojekt nicht nur auf den Widerstand der zu zählenden Objekte sondern auch auf seine eigenen Grenzen. Es produziert das Chaos selbst, das in den täglichen „Zähler–pannen“ gar nicht in vollem Umfang zum Ausdruck kommt. Umso wichtiger wird es für die Staatsorgane, das Fiasko zu vertuschen und herunterzuspielen. Sie werden, soviel ist gewiß, nach Abschluß der Zählung wider besseres Wissen behaupten, die Chose sei ein „Erfolg“ gewesen. In dem Wettkampf „Volkszähler gegen zählunwilliges Volk“ gibt es keinen unparteiischen Dritten, der für beide Seiten und für die Öffentlichkeit verbindlich einen Kontrahenten zum Sieger küren könnte. Für die eine Seite besteht der Sieg darin, den Verwaltungsakt trotz aller widerstände und Schwierigkeiten irgendwie zuende gebracht zu haben, für die andere Seite bedeutet Sieg, massenhaft zum Ungehorsam animiert und die Ergebnisse der Zählung unbrauchbar gemacht zu haben. Eine Erfahrung wird jedoch bestand haben:Die von der Lust am Nein–Sagen. Wohl selten in den letzten Jahren hat sich eine so phantasiereiche, so wenig dogmatische und zerstrittene Bewegung entwickelt wie anläßlich des Zählaktes. Die individuell erfahrene und doch jeden einzelnen gleichermaßen betreffende Maßnahme hat den Volkszählungsprotest bis ins letzte Nest der Republik getragen. Weil Angst vor der Erfassung, individuelle Renitenz und bewußte Anti–Staatlichkeit zu dem selben Ergebnis führen, nämlich den Gehorsam zu verweigern, blieb der Vobo–Bewegung auch die Zerreißprobe eines ideologischen Zielkonfliktes erspart. Gerade das Zusammenfließen der unterschiedlichsten Motivationen zu einer massenhaften Loyalitätsverweigerung macht es den Befürwortern der Volkszählung so schwierig, ein politisches Mittel gegen die Opponenten zu finden. Ihre Stigmatisierung und politische Ausgrenzung fällt schwer. Je eindringlicher die staatliche Werbung argumentiert, desto lächerlicher wirkt sie. Doch darf nicht übersehen werden, daß Schummeln, Verzögern und Boykottieren bisher vergleichsweise risikolos waren. Die zweite Runde der Machtprobe steht noch bevor. Wenn die Staatsorgane in den nächsten Wochen und Monaten die Bußgeldpeitsche schwingen, um die Datenherausgabe und damit die Unterwerfung unter die staatliche Zielsetzung zu erzwingen, wird sich zeigen, wem der Trotz gegen die Zählu wie lange wird sich die gegenwärtige Verweigerungseuphorie halten lassen? Wieviele werden sich von der Androhung eines empfindlichen Bußgeldes in die Knie zwingen lassen? Die Strafmaßnahmen treffen den Boykotteur als Individuum. Keine Siegeszahlen von abgelieferten, unausgefüllten Bögen können die Gefahr bannen, als Einzelner zur Kasse gebeten zu werden. Auf diesen Effekt hoffen Zählbehörden, wenn sie mit ersten drakonischen Bußgeldern einzuschüchtern versuchen. Entscheidend für den Erfolg dieser zweiten Etappe der Verweigerung wird sein, ob sie von dem Bewußtsein getragen wird, daß nur massenweises Durchhalten vor individueller Bestrafung schützt, daß es möglich ist, Behörden und Gerichte mit zahlreichen Verfahren zum Kollaps zu bringen und eine Ahndung der Ordnungswidrigkeit „Boykott“ praktisch unmöglich wird. Sollte es gelingen, die Staatsorgane zu der öffentlichen Erklärung zu zwingen, daß alle Bußgeldverfahren eingestellt werden, weil sie nicht mehr durchführbar sind, dann lassen wir die Sektkorken knallen. Der Sieg über die Gehorsamsprobe könnte unwidersprochen in die Geschichtsbücher geschrieben werden. Mit dem restlichen Zahlensalat mögen sie dann anfangen, was sie wollen. Imma Harms/Petra Bornhöft