: Gesundheitstag wird boykottiert
■ Ärger im Vorfeld des Gesundheitstages / Hamburger und West–Berliner Referentinnen sagen ihre Teilnahme an den geplanten Diskussionsveranstaltungen wegen eines Hackethal–Auftritts zur Sterbehilfe ab
Aus Bonn Oliver Tolmein
Zu einem Eklat kam es im Vorfeld des Gesundheitstages, der morgen abend in Kassel eröffnet werden wird. Mehrere Veranstaltungen im Bereich Genetik und vor allem in den Schwerpunktbereichen „Euthanasie und Sterbehilfe“ sowie „Behindertenpolitik“ sind von den Referentinnen am Wochenende abgesagt worden. Anlaß dazu ist die für Donnerstag abend von der Vorbereitungsgruppe in der Kasseler Stadthalle angesetzte Großveranstaltung „Ärztliche Erlösungstodhilfe - ja oder nein“. Bislang einziger Referent: Julius Hackethal. „Nach 14tägiger Diskussion mit den Veranstaltern des Gesundheitstages müssen wir feststellen, daß Julius Hackethal ganz bewußt und gezielt als Zugpferd für die Medien eingesetzt worden ist,“ kritisieren die Vertreterinnen des Vereins zur Erforschung der NS– Sozial– und Gesundheitspolitik, der Behinderteninitiative Autonomes Leben, der Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, des Instituts für medizinische Soziologie der Universität Hamburg und des Instituts für Geschichte der Medizin in West– Berlin in einer gemeinsamen Presseerklärung. Sie weisen darauf hin, daß sie von der Veranstaltung Hackethals nur durch Zufall im Programmbuch gelesen hätten und ihrer Meinung nach „somit die Position Hacket– hals aus dem Diskussionszusammenhang der vier vorausgehenden Referate herausgelöst (ist).“ Hackethal, der vor wenigen Wochen in einem Interview mit der BILD–Zeitung vorgeschlagen hatte, die „Euthanasie bei AIDS– Kranken“ zuzulassen, wird vorgeworfen, eine Position zu vertreten, die in der Tradition der Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ durch die NS–Medizin steht: „Die gegenwärtige ausgrenzende Sozialpolitik bricht systematisch den Lebensmut Alter und Behinderter; vor diesem Hintergrund ist die Behauptung der individuellen Verfügbarkeit über den eigenen Tod eine Zwecklüge.“ Brisanz gewinnt die Kritik der Hamburger und West–Berliner Gruppen vor dem Hintergrund der Geschichte der Gesundheitstage: Deren erster in West–Berlin beschäftigte sich intensiv damit, die NS–Medizin aufzuarbeiten und Kontinuitäten auch in Bereichen wie „Euthanasie“ bis heute nachzuweisen. „Es ist uns eine unerträgliche Vorstellung, daß auf dem Gesundheitstag 1987 längst erarbeitete Positionen preisgegeben werden und der neuen Euthanasiebewegung Tür und Tor geöffnet werden. Deswegen sagen wir unsere Veranstaltungen ab. Wir fordern unsere grün–alternativen Freunde auf, ebenfalls einen klaren Trennungstrich zu ziehen und den Gesundheitstag zu boykottieren“, schließt die Presseerklärung. Die Kasseler Vorbereitungsgruppe hält trotz dieser massiven Kritik an ihrem Vorhaben fest, Julius Hackethal die Hauptveranstaltung zu diesem Thema halten zu lassen. Zugestanden wurde jedoch ein zweiter Referent, der auf dem Podium eine kontroverse Position vertritt. Alle bisher gefragten möglichen Diskussionspartner haben allerdings abgesagt.
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