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Was heißt „menschenunwürdig“?

Donnerstag abend ist die Akustik in der Stadthalle mies, die Stimmung aufgeheizt. Die ReferentInnen müssen vom Podium aus über Megaphon in den nicht erleuchteten Saal sprechen. Der seit zwei Wochen schwelende Konflikt um das Schwerpunktthema „Euthanasie“ hat seinen Höhepunkt erreicht. Am Nachmittag noch hatten Frauen aus der Organisationsgruppe des Gesundheitstages nach zähen, langen Diskussionen den Initiativen aus der Behindertenbewegung und den Hamburger Referenten im Bereich „Sterbehilfe“, die sich gegen den Auftritt von Julius Hackethal als Hauptredner gewehrt hatten, zugesichert, daß dieser ausgeladen sei und stattdessen sie die zentrale Abendveranstaltung in der Stadthalle durchführen sollten.Das Chaos erreicht seinen Höhepunkt. Um 20 Uhr klingen ganz andere Töne an: Mit den Worten „Wir wurden gezwungen, Hackethal auszuladen, heute abend findet hier gar nichts statt“, schicken HelferInnen das interessierte Publikum nach Hause. Den überraschten Leuten aus den Behinderteninitiativen wird mitgeteilt: Aus Angst vor Randale habe man die Stadthalle abgesagt. Stattdessen wird ein Hörsaal in der Gesamthochschule, etwa eine Viertelstunde Autofahrt entfernt, versprochen. Ein Angebot, auf das niemand mehr eingehen mag: „Wir lassen uns hier nicht hin– und herverschieben“, protestiert die als Referentin eingeladene Theresia Degener vom bundesweiten Zusammenschluß von Behinderteninitiativen und fordert die knapp 500 Anwesenden auf, den Saal mit Beschlag zu belegen: „Die Veranstalter können uns dann ja räumen lassen.“ Nach heftigem Hin– und Her setzen sich die Behinderteninitiativen gegen die Veranstalter des Gesundheitstages durch. Bis sie Mikros und Licht bekommen, dauert es aber nochmal eine Stunde - von den etwa 500 Interessenten ist zu dem Zeitpunkt schon die Hälfte gegangen. Auf dem Podium sitzen dann VertreterInnen der Krüppelinitiative Marburg (KRIM), der Krüppelgruppe Frankfurt und Michael Wunder von der Bundesarbeitsgemeinschaft Gesundheit und Sozia les der Grünen. Nachdem der Konflikt nachgezeichnet und das massive Vorgehen gegen die Veranstalter begründet worden ist, wird am Beispiel der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) aufgezeigt, was die Sterbehilfe–Befürworter vorhaben. Sie fordern in erster Linie die Streichung des §216 StGB, der die Tötung auf verlangen unter Strafe stellt. Die DGHS läßt ihre Mitglieder Erklärungen unterzeichnen, in denen sie verlangen, daß ihre medizinische Behandlung eingestellt wird, „wenn zwei Ärzte feststellen, daß ich kein menschenwürdiges Leben mehr führen kann“. „Was heißt denn menschenwürdig?“, fragt die Vertreterin der KRIM und kritisiert, daß hier Menschen zu einer Vorentscheidung über Lebenssituationen gebracht würden, die sie überhaupt nicht erfahren hätten. Unterdessen ist Hackethal, obwohl ausgeladen, in der Stadthalle eingetroffen und erläutert im Foyer einer kleinen Gruppe von Presseleuten, welches Leben er gegebenenfalls für nicht mehr „menschenwürdig“ hält: Eine 27jährige Frau, im Halswirbelbereich querschnittgelähmt, habe ihn gebeten, sie zu töten. Der Bild–Zeitung verrät der Euthanasiebefürworter noch mehr: Er hätte auf der Gesundheitstag–Veranstaltung ein Tonband der Patientin abspielen wollen, um dann im Saal darüber abstimmen zu können, ob in so einem Fall Sterbehilfe erlaubt sein soll. Daß er ausgeladen worden ist, trifft ihn wenig, das sei eben „Demokratie bis zum letzten“ und zeige anschaulich, daß es auch da Grenzen geben müsse. Rüde unterbricht er einen Rollstuhlfahrer, der seine Position zur Sterbehilfe angreift und ihm vorwirft, er argumentiere ähnlich wie „Euthanasie“–Befürworter im NS–Regime: „Glauben sie, uns hier tyrannisieren zu können, weil sie behindert sind?“ Im Saal erklärt Michael Wunder, daß Hackethals Position nicht tolerabel sei: „Die Tötung auf Verlangen eines Menschen selbst, und die Tötung auf Verlangen der Gesellschaft sind untrennbar miteinander verknüpft“. Ausführlich begründet er die Kontinuität der beginnenden „Euthanasie“–Diskussion von der Weimarer Republik bis heute. Gegenüber derartigen Positionen gelte es, einen ganz klaren Trennungsstrich zu ziehen. Ein Blick nach Californien/USA, wo aktive Sterbehilfe seit zehn Jahren legal sei, zeige, daß diese Diskussion nicht auf selbstgewünschte Sterbehilfe eingrenzbar sei: Heute werde dort die Tötung Schwerkranker oder Schwerstbehinderter auch ohne deren Einwilligung diskutiert. „Wir werden hier nicht ernstgenommen.“ Der Abend endet gegen 22 Uhr mit einem zweiten Eklat: Begleitet von zwei Mitgliedern der Veranstaltergruppe taucht plötzlich Julius Hackethal persönlich auf dem Podium auf, angekündigt nur vom Blitzlichtgewitter der Fotografen. Als die Behinderten daraufhin die Veranstaltung abbrechen wollen, verschwindet er wieder, nicht ohne sich allerdings vor einem Mikrofon ablichten zu lassen. Den Behinderten bleibt nur die Auseinandersetzung mit der Veranstaltergruppe, die am Ende des Abends zu einem totalen Boykott sämtlicher Behindertenpolitischen Veranstaltungen führt. Am Freitag morgen solidarisieren sich auch die meisten Referentinnen aus dem Bereich „Gen– und Reproduktionstechnologien“ mit dem Boykott und sagen ihre Veranstaltungen ab. Selbst die Gruppen, die bisher den Boykott abgelehnt haben, befürworten jetzt den Auszug: „Ein Gesundheitstag auf dem - gegen massiven Widerstand - das propagiert werden soll, wofür Hackethal steht, wo für ihn und gegen uns Raum erzwungen werden soll, ein solcher Gesundheitstag ist nicht mehr unserer“, formulieren sie in einem Infoflugblatt: „Nach dem gestrigen Abend ist uns Krüppeln klar: Unser Protest wird nicht ernstgenommen, er wird unterlaufen.“ Die über diese Frage völlig zerstrittene Veranstaltergruppe ringt sich angesichts des Desasters dazu durch, die zweite Veranstaltung Julius Hackethals, die für Samstag abend angesetzt ist, ersatzlos zu streichen: „Wir haben in der Zwischenzeit einen Lernprozeß durchmachen müssen. Uns ist klargeworden, daß das Theme Sterbehilfe für behinderte Menschen mit Hackethal nicht diskutierbar ist.“

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