: Sterbehilfe für die Gesundheitsbewegung
■ Der fünfte Gesundheitstag in Kassel erweist sich als organisatorischer und politischer Flop Auseinandersetzung um Hackethal überschattet die Veranstaltung / Aus Kassel Oliver Tolmein
„Eine Gesundheitsbewegung“, so moniert ein Teilnehmer des Gesundheitstages in Kassel, „habe ich hier nicht angetroffen.“ „Logisch nicht“, kontert einer der Veranstalter, „die hat es ja auch nie gegeben.“ Bleibt die Frage, für wen dann der Gesundheitstag organisiert wurde. Überzeugende Antworten darauf gab es nicht. In der Fülle der Veranstaltungen gingen die Zusammenhänge verloren, richtungsweisende Debatten fanden nicht statt. Stattdessen führte der Streit zwischen Veranstaltern und Behind zu kitenden Bruch. Viele fühlten sich in ihren Interessen übergangen und reagieten mit Boykott.
Der Titel verhieß Grundsätzliches: „Warum ein Gesundheitstag? Über Sinn und Aufgabe einer Veranstaltung dieser Größe.“ Das knappe Dutzend, das Donnerstag morgen, Punkt elf Uhr, zwölf Stunden nach Eröffnung und zwei Jahre nach Beginn der Planung des Gesundheitstages wissen will, was die über 700.000 Mark teure Veranstaltung denn nun soll, wird aber bitter enttäuscht: Die AG I ist kurzfristig abgesetzt worden, der Referent hatte keine Lust. Außerdem sollte er gleichzeitig an einer Podiumsdiskussion teilnehmen und einen Workshop leiten. Zur gleichen Zeit, an anderem Ort, verblüfft unterdessen eine Presseerklärung BesucherInnen und ReferentInnen: „Haxenessen ist ein Affront gegen den Gesundheitstag“, teilt Brigitte Stumm von der Organisationsgruppe der lokalen Presse mit und verurteilt das kulinarische Konzept des parallel zum Treffen der KritikerInnen des hiesigen Gesundheitswesens stattfindende Kasseler Stadtfest aufs schärfste. Organisatorisches Chaos und politische Orientierungslosigkeit Die beiden Momentaufnahmen liefern kein umfassendes, sicher aber ein charakteristisches Bild des Gesundheitstages 1987. Das Treffen ist geprägt von einem hohen Anspruch der Veranstalter, viel Desorganisation und einer Portion missionarischen Eifers. Die aus der ganzen BRD und Westberlin nach Kassel gereisten scheint das allerdings kaum zu stören. Trotz monatelanger Auseinandersetzungen im Vorfeld über das Konzept - beziehungsweise dessen Fehlen - sind viele gekommen. Zumindest auf dem Papier wird ihnen eine Menge geboten. Sechshundert Podiumsdiskussionen, workshops, Arbeitsgruppen und Vorträge führt das Programmheft auf - viele finden dann doch nicht statt, bei etlichen haben sich die ReferentInnen geändert. Robert Jungk hat seine Veranstaltung „Den Widerstand fortführen“ abgesagt, Vokmar Siegusch kann zu den AIDS–Diskussionen nicht kommen, und wer die zentrale Podiumsdiskussion im Frauen Schwerpunktbereich über „Das Selbsbestimmungsrecht zwischen § 218 und neuen Reproduktionstechnologien“ bestreitet, steht auch Freitag morgen noch nicht fest. Die Chance im angekündigten Raum zur vorgesehenen Zeit die versprochenen Themen präsentiert zu bekommen ist kaum größer als 50 Prozent. Und wenn die ReferentInnen dann da sind, kann es ihnen leicht ergehen wie dem Frankfurter Medizinsoziologen Ulrich Deppe, der pünktlich zu seiner Podiusmdiskussion über „aktuelle Politik und Tendenzen im konservativ–herrschenden Block des Gesundheitswesens“ antritt, dort aber nur zehn Zuhörer vorfindet: Die Veranstaltung wurde um zwei Stunden vorverlegt, und niemand hats gewußt. Aber der Gesundheitstag leidet nicht nur unter dem organisatorischen Chaos, auch die politische Orientierungslosigkeit scheint enorm. Gesundheitsbewegung - gibts die? Dezentraler als auf dem Gesundheitstag 1987 in Kassel gehts nicht. Klein ist, schon vorgegeben durch die architektonischen Verhältnisse, fein: Ein zentrales Forum gibt es in der postmodern gebauten Gesamthochschule Kassel nicht. Die Seminarräume haben Schlafzimmergröße, und auch in die Hörsäle passen kaum mehr als 200 Leute. Die Diskussionen zu den Themenbereichen „Arbeitswelt“ und „Umwelt“ sind mangels Platz in andere Gebäude in der Stadt ausgelagert worden. Ein Austausch zwischen den Standorten findet kaum statt. Die räumliche Zersplitterung - der Eindruck dominiert nach zwei Tagen - korrespondiert mit der politischen Zerrissenheit und den völlig unterschiedlichen Ansprüchen der BesucherInnen. „Eine Gesundheitsbewegung finde ich hier nicht“, konstatiert Hans Ulrich Deppe. „Da es die nie gegeben hat, kann es sie auch hier nicht geben“, setzt der Hamburger Apotheker Helmut Hildebrand dagegen. Aufbruchstimmung jedenfalls herrscht nicht - es gibt auch kein Thema, an dem sich eine zentrale Diskussion entwickelt. Die AIDS–Veranstaltungen sind zwar gut besucht, die Auseinandersetzung dort führt aber kaum über die bekannten Standpunkte hinaus. Weder wird eine perspektivische Strategiedebatte geführt, noch gelangt man zu neuen Erkenntnissen über unterschiedliche Konzepte konservativer Gesundheits– und Sozialpolitik. Übergreifend und heftig engagiert wird auf dem Gesundheitstag vor allem über das Thema „Sterbehilfe“ und die Ein– und Ausladung Julius Hackethals diskutiert. „Tiefer sollte man das hängen“, meinen etliche, weil sie befürchten, daß diese Kontroverse den gesamten Gesundheitstag überlagert. Aber da sind die Wellen der Empörung schon übergeschwappt und die Boykott–Erklärungen in Tausender–Auflage verteilt. „Die wollen hier einfach weitermachen Obwohl die Veranstalter noch mit erheblich mehr Teilnehmern gerechnet hatten, sind die Universitätsräume am Holländischen Platz chronisch überfüllt. Und an den Ständen, die die universitätsinterne Nora–Platiel–Straße säumen, drängen sich die Menschen. Angeboten werden Ohrringe, Tigerhosen, Yogi–Tee, zahllose Broschüren und Raubdrucke der vorletzten Buchsaison. Geworben wird zum Teil mit gar nicht alternativer Ideologie: „Gesundheit - Ästhetik - Schönheit“ verheißt ein blaues Schild über einem gut besuchten Stand, und niemand nimmt daran Anstoß. Helga Goetze, ständige Besucherin der Berliner Filmfestsspiele und dort von den Prominenten gern hofierte Exotin, hat auch den Weg nach Kassel gefunden und verkündet, ständig von einem wechselnden Dutzend meist widerspruchslos lauschender Gesundheitsinteressierter umlagert: „Ficken ist Frieden“ - und Frieden soll ja so gesund sein. „Es hat etwas idyllisches hier“, findet eine Besucherin, und weiß nicht recht, ob sie das gut finden soll oder nicht. Zwei Stunden später hat sie sich für „gut finden“ entschieden, sitzt am Eingang und beobachtet die Hin– und Hergänger: „Ich habe es aufgegeben, mich im Veranstaltungswirrwarr zurechtzufinden.“ Ein Ausweg, der am Freitag nicht mehr offen steht: Es regnet in Strömen. Unterdessen haben die Veranstalter schon ganz andere Sorgen: „“Spendet, spendet/ bald ist Not/ sonst ist die Gesundheitsbewegung tot“, singt, von sich selbst auf einer dumpfen Trommel begleitet, als einsamer Mahner im Regen der Soziologe Rolf Schwendter, der den Gesundheitstag nach Kassel geholt hat. Über 50.000 Mark Schulden seien aufgelaufen, nur 2.000 Leute hätten zum Gesundheitstag gefunden, klagt er und droht: „Wenn ihr jetzt nicht spendet, gibts keinen Gesundheitstag mehr.“ Eine Warnung, die die umherstehenden RedakteurInnen der kritischen Gesundheitszeitschrift Dr. med Mabuse auf die Palme treibt: „Anstatt sich mal zu fragen, wieso statt der angekündigten 10.000 Leute nur 2.000 gekommen sind und ob diese Form von Gesundheitstag überhaupt noch erstrebenswert ist, wollen die hier einfach immer weitermachen.“
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