: Keine Zeit für Statistik
Knapp drei Wochen, nachdem die ersten Zähler ausgeschwärmt waren, läuft das Hauptgeschäft der Volkszählung auf Hochtouren. Bundesweit ohnehin sehr unterschiedlich, ist ein Ende der ersten Erhebungen nicht präzise zu terminieren. Während Bundeskanzler Kohl sich bereits am letzten Mittwoch wie an einem Wahlabend bei „den vielen Helfern und Zählern ausdrücklich“ bedankte und meinte, jetzt komme „es auf eine zügige Auszählung der Daten an“, bedauerten die Statistischen Landesämter auf einer Konferenz in dieser Woche, daß „in vielen Großstädten die Fragebögen noch nicht verteilt wurden“. Welche Orte zu den Großstädten zählen, scheint (neuerdings) umstritten. Erlangen etwa, bisher zu den Mittelstädten gerechnet, definierten die bayerischen Behörden kurzerhand um zu einer der riesigen Cities, in denen die Zähler bis zum 30. Juni ihre Bögen bei der Erhebungsstelle abgegeben haben müssen. Ursprünglich wollte man in Erlangen, wie in anderen kleinen und mittelgroßen Städten, bis zum 9. Juni fertig sein. Fix und fertig dagegen scheinen die Bediensteten in den lokalen Volkszählungsbüros zu sein. Sie hätten „momentan etwas anderes zu tun als eine Statistik über die Zahl der eingegangenen Fragebögen zu führen“, erklärte Dr. Öhl vom Statistischen Landesamt Berlin gegenüber der taz. Mit diesen Worten rechtfertigte er das Schweigen über die Rücklaufquote bei den Erhebungsstellen. Eine Umfrage der taz bei mehreren Zählleitern in Nordrhein– Westfalen und Bayern ergab, daß diese effektiv nicht wissen oder nicht sagen wollen, wieviele Bürger/innen den blaßgrünen Briefumschlag abgeliefert haben. Gleichwohl haben Zensus–Beauftragte neugierige Blicke auf die ausgefüllten Formulare geworfen. Im bayerischen Ansbach zum Beispiel klagt der Erhebungsstellenleiter über eine Fehlerquote von satten 75 Prozent. Die Befragten hätten zum Kugelschreiber statt zum Bleistift gegriffen, Häkchen statt Striche gemacht oder die Fragen einfach falsch verstanden. Ausgerechnet Studenten kamen nicht klar mit der Frage nach dem Weg zur Arbeitsstätte. Sie gaben die Entfernung zwischen Uni und (elterlichem) Wohnsitz an und nicht etwa die Kilometer zwischen Uni und Studentenbude. „Da kommen furchtbar viele Nacherhebungen auf uns zu“, stöhnt der Beamte aus Ansbach, dessen Kollege im baden–württembergischen Weinheim das gleiche Lied anstimmt. Dort wußten über 50 Prozent der Auskunftspflichtigen nichts mit der Frage nach ihrer Schulbildung oder dem zweiten Wohnsitz anzufangen. Hysterische Behörden Ob es sich hierbei um Formen des sogenannten weichen Boykotts handelt oder ob die Auskunftspflichtigen tatsächlich die Fragen nicht verstanden haben, steht dahin. Immerhin fühlen sich laut Blitz–Umfrage der Wickert–Institute vom Anfang der Woche beachtliche 71 Prozent der Befragten „nicht ausreichend informiert“. Sechs Prozent unabsichtlichen Moglern sei der Bogen „zu kompliziert“, fanden die Meinungsforscher heraus. Unterdessen erreichen die Reaktionen der Behörden gegenüber Volkszählungsgegner/innen beispiellose Ausmaße. Täglich erreichen allein die taz etwa zehn Meldungen über Hausdurchsuchungen mit und ohne richterliche Anordnung. Pauschal werden Bußgelder verhängt und ebenso pauschal Widersprüche gegen die Aufforderung zur Datenauskunft abgelehnt. Unbeeindruckt von dem Urteil des Landgerichts Lübeck, nachdem das Schnibbeln am substanzlosen Fragebogen keine Sachbeschädigung sei, halten andere Gerichte an der Rechtsauffassung des Innenministeriums fest: Wer ausgefüllte Fragebögen „vernichtet, beschädigt oder unterdrückt“, kann wegen Urkundenunterdrückung bestraft werden. Wer leere Fragebögen „beschädigt oder zerstört“, kann sich wegen Sachbeschädigung strafbar machen. Diese Ansicht Zimmermanns übermittelte Bundespostminister Schwarz–Schilling bereits am 7. Mai in einem jetzt der taz zugespielten Schreiben den Oberpostdirektionen. Darin fordert Schwarz–Schilling „vorsorgliche Belehrung“ der Beamten, die als Volkszählungsgegner aktiv werden und insofern gegen die „Loyalitätspflicht gegenüber dem Dienstherrn“ verstoßen könnten. Und dort, wo die Loyalitätspflicht überhaupt noch nicht besteht, beugen die Behörden vor. So lehnte am Donnerstag Aachens Oberstadtdirektor Berger (CDU) die überlicherweise formelle Bestätigung des Grünen Fraktionsgeschäftsführers Günter Schabram ab. Er könne kein Verwaltungsangestellter werden, in Aachen erhalten Fraktionsgeschäftsführer einen Arbeitsvertrag mit der Stadt, weil Schabram infolge der Boykottaufrufe „keine Gewähr biete, die Gesetze einzuhalten“. Uferlos auch die Definition von vermeintlich strafbaren Boykottaufrufen. Für den bayerischen Staatsschutz gehört dazu schon die bloße Bekanntgabe des Umfangs angewandter legaler Rechtsmittel. So erhielten in Erlangen Verantwortliche einer Plakatwand, auf der die Zahl der juristischen Widersprüche gegen die Volkszählung stand, einen polizeilichen Anhörungsbogen wegen Verdachts auf Boykottaufruf. Petra Bornhöft
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