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Raketendebatte: Die Furcht unterm Stahlhelm

■ Nach Kanzler Kohls jüngster Regierungserklärung bleiben mehr Fragen offen als beantwortet wurden / Was will die Bundesregierung mit dem veralteten Raketensystem Pershing 1a? / Per „Drittstaatensystem“ auf dem Weg zur Atommacht BRD?

Von Jürgen Gottschlich

Berlin (taz) - „In der Sowjetunion“, so der Deutschlandexperte des ZK der KPdSU Nikolai Portugalow, ist die Erklärung des deutschen Bundeskanzlers mit „gemischten Gefühlen aufgenommen worden“. Vor allem das Beharren auf den Pershing–1a–Raketen, deren US–amerikanische Atomsprengköpfe die Bundesregierung „quasi als ihr Eigentum reklamiert habe“, sei in Moskau mit „erheblicher Besorgnis“ registriert worden. Mit dieser Besorgnis steht Moskau sicher nicht allein. Denn bleibt es dabei, daß zwar die Trägersysteme der Pershing 1a der Bundeswehr gehören, die Atomsprengköpfe aber zu den Arsenalen der USA, so ist nicht einzusehen, warum diese Sprengköpfe in den Verhandlungen zwischen den Supermächten tabu sein sollten. Bilden aber Trägersysteme und Atomsprengköpfe eine „Einheit, die nicht zur Disposition steht, weil sie ein Drittstaatensystem darstellt“, wie Kohl nun behauptet, wird die Bundesrepublik unter der Hand plötzlich zu einer Atommacht, die ihre Systeme aus dem Handel der Großen heraushalten will. Daß diese Entwicklung nicht nur in Moskau, sondern auch in den Hauptstädten des Bündnisses Argwohn erregt, liegt auf der Hand. Warum setzt sich die Bundesregierung solchen Zweideutigkeiten aus, was veranlaßt vor allem den harten Kern der Union dazu, sich so verbissen an ein eigentlich veraltetes Raketensystem zu klammern. Panik in der Stahlhelmfraktion Ursprünglich war die sogenannte Stahlhelmfraktion innerhalb der Union gegen jede Abrüstung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Europa. Da der Tausch Pershing II und Cruise Missiles gegen die sowjetischen SS 20 aber bereits die Grundlage des NATO–Doppelbeschlusses bildete, gab es für ein Festhalten an diesen Raketen nach dem Einschwenken der UdSSR auf die NATO–Linie keine Chance. Zähneknirschend mußten Leute wie Dregger und Todenhöfer akzeptieren, daß Gorbatschow die NATO beim Wort nahm und erstmals in der Geschichte der Atomwaffen ein modernes System tatsächlich verschrotten will. Panik kam auf, als derselbe Gorbatschow darüber hinaus anbot, die rund 800 Atomsprengköpfe samt ihrer Trägersysteme von Mittelstreckenraketen der Reichweite zwischen 500 und 1.000 Kilometer ebenfalls zu vernichten. Auf den ersten Blick erscheint die ablehnende Reaktion aus Bonn völlig unverständlich, da der sowjetischen Übermacht in diesem Bereich nur die 72 Pershing 1a gegenüberstehen, deren militärische Relevanz in beiden Lagern als gering eingeschätzt wird. Doch statt zu jubeln beschworen die christlichen Demokraten das Gespenst eines „denuklearisierten“ Europa. Verständlich wird diese Reaktion erst auf dem Hintergrund deutsch–amerikanischer Beziehungen. Die deutsche Rechte fürchtet um den atomaren Schutz durch die USA. Beginnt in Europa erst einmal der Prozeß des Rück zugs, so die dahinterstehende Dominotheorie, gibts kein Halten mehr. Die Amerikaner hätten noch nie ein großes Interesse gehabt, sich auf dem europäischen Kriegsschauplatz atomar zu engagieren, und seien deshalb viel eher bereit sowjetische Offerten in diesem Bereich zu akzeptieren. Plötzlich ist die bis dato immer beschworene Interesensidentität mit dem Großen Bruder dahin, hinter vorgehaltener Hand schreit der Stahlhelmflügel Verrat. In diesem Dilemma wird die Pershing 1a zum „Faustpfand“ gegenüber Washington. Wollen die Amerikaner sich in Europa herausziehen, so sollen sie den Bundesdeutschen die Verfügungsgewalt über die Pershing 1a plus deren Sprengköpfe überlassen und damit die Option auf die eigene Atommacht. Wie weiter mit Pershing 1a? Bleibt die Frage, ob die Supermächte in Genf auf diese Wünsche Rücksicht nehmen werden. Allen Beteuerungen aus Washington zum Trotz hat Reagan hinlänglich deutlich gemacht, daß ihm an einem Abschluß mit Gorbatschow so viel liegt, daß er ein Abkommen nicht an Bonner Sonderwünschen scheitern lassen wird. So wirkten denn auch die in der Bundestagsdebatte am vergangenen Donnerstag mehrfach deutlich ausgesprochenen Avancen an Frankreich wie das vorweggenommene Eingeständnis der Niederlage und der Versuch, nun eine europäische Perspektive zu entwickeln. Falls die Sowjetunion auf dem Abzug der US–Sprengköpfe besteht, wäre immerhin denkbar, die Lücke aus französischen Arsenalen aufzufüllen. Wenn schon nicht im engen waffentechnischen Sinn, so doch im Rahmen eines bilateralen Bündnisses, das eine bundesdeutsche Partizipation an der force de frappe vorsehen könnte. Ganz ohne Zugeständnisse an die Ängste der CDU–Stahlhelmer werden die USA sich nicht aus der Affäre ziehen können. Und unter den verschiedenen Möglichkeiten wäre eine europäische Atomstreitmacht aus Washingtoner Sicht wohl nicht die schlechteste.

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