: „Wo ich Dir weh getan habe, verzeih mir“
■ SPD–Vize Rau zum Abschied von Willy Brandt / Vogel übernimmt den Vorsitz / Lafontaine wird Stellvertreter
Fast 24 Jahre führte Willy Brandt die sozialdemokratische Partei an. Gestern wurde er auf einem Sonderparteitag von seinem Stellvertreter Hans–Jochen Vogel an der Parteispitze abgelöst. Nach einer schweren Niederlage bei der Bundestagswahl im März entbrannten die Flügelkämpfe um die Perspektive der alten Arbeiterpartei. Mit der Berufung der parteilosen Margarita Mathiopoulos zur Parteisprecherin brachte Br und stellte sein Amt vorzeitig zur Verfügung. In seiner mit großem Beifall begleiteten Absciedsrede umriß der scheidende Parteivorsitzende die Aufgaben der sozialdemokratischen Politik: aufgeklärte Vernunft, sozialer und ökologischer Humanismus und demokratische Kultur.
Plötzlich geht das geschäftige Treiben in der mit Delegierten und Journalisten vollgestopften Bonner Beethovenhalle über in rhytmisches Klatschen: Willy Brandt betritt den Saal, drängt sich langsam durch die vielen Leute hinauf zum Podium. Ein Teppich aus Feierlichkeit und Betroffenheit legt sich über den Saal und fortan ist es unmöglich, das Falsche vom Echten zu unterscheiden. Das Abschiednehmen steigert Johannes Rau in seiner Eröffnungsrede bis zur Peinlichkeit, als seine Stimme plötzlich ganz leise wird und er in der Pose eines Sünders bei der Beichte sagt: „Wo ich Dir weh getan habe, verzeih mir.“ Brandt sitzt mit unbeweglicher, geradezu versteinerter Miene auf seinem Platz. Viele Gäste sind zum Abgang des Idols gekommen und über tausend Journalisten aus aller Welt: Josef Felder ist da, der letzte lebende SPD–Reichstagsabgeordnete; Franz Vranitzky, der österreichische Bundeskanzler, Joop den Uyl, der Vizepräsident der Sozialistischen Internationale und auch Helmut Schmidt. Brandt klatscht nicht mit, als Johannes Rau den früheren Bundeskanzler begrüßt. Im Mittelpunkt des Parteitags steht die Rede Willy Brandts. Fast zwei Stunden lang dauert sein Resümee, eine Mischung aus vorsichtiger Selbstkritik, Resignation und dem Versuch, strategi sche Orientierung zu geben. Eine böse Abrechnung mit seiner Partei ist es nicht geworden. Brandt bleibt versöhnlich, schließlich geht er „von Bord“ und „nicht von Deck“, wie er gestern wiederholt. Und er bleibt eine Institution, die den Laden zusammenhalten wird, gerade als „Ehrenvorsitzender“. Fünf Stichworte durchziehen seine Rede: Freiheit, Verantwortung, Bewegungskraft, Friede und Hoffnung. Er beginnt mit dem, was ihm „neben dem Frieden wichtiger sei als alles andere“: Das sei, „ohne wenn und aber: Freiheit“. „Eine Laune war es nicht, als ich 1969 dazu einlud, mehr Demokratie zu wagen“, sagt Brandt, aber er führt nicht aus, warum er selbst den Anspruch auf Demokratisierung damals so kampflos preisgab. Nur eine Passage fällt da heraus, als Brandt so etwas wie Abbitte leistet: „Wir tun gut daran, gegenüber allen Tendenzen wachsam zu bleiben, die die individuelle Freiheit unnötig einengen. Wie man sich hüten muß, durch angebliche Notwendigkeiten staatlicher Sicherheit nicht auf Abwege gelotst zu werden, habe ich seinerzeit am Beispiel des sogenannten Radikalen– Erlasses schmerzlich erfahren.“ Mit diesem Bekenntnis ist Brandt seiner Partei sicherlich um Jahre voraus. Unter dem Begriff „Verantwortung“ folgen deutliche Worte der Kritik an die Adresse derer, die gegen vieles gegrummelt haben: gegen Brandt selbst, seinen Führungsstil, die Nürnberger Beschlüsse. Sehr forsch betont Brandt, „ich konnte und kann nicht dazu raten, als richtig erkannte Einsichten deshalb nicht weiterzuverfolgen, sondern wegzulegen, weil sie nicht hinreichend wählerwirksam waren“. Er sagt: „Ja, und nochmals ja“, wenn es darum geht, sich verständlicher zu machen: „Aber unsere Programmatik aus dem ableiten, was die Leute gerade hören wollen: Nein.“ Deutlich bezieht er Position gegen Versuche vom rechten Flügel, die Nürnberger Beschlüsse infrage zu stellen: „Was beschlossen ist, muß für alle gelten, auch für solche, die sich für noch viel bedeutender als andere halten.“ Und all jenen, die ihm Führungsschwäche vorwarfen, schreibt er ins Stammbuch: „Ich halte nichts von einer teutonischen Pseudo–Autorität, die durch den Schlag mit der Faust auf den Tisch demonstriert wird. Den Tisch beeindruckt der Faustschlag wenig. Wen sonst?“ Bei diesen Passagen kommt tosender Beifall auf; was allerdings etwas peinlich wirkt: Selbst diejenigen, die Brandt den fehlenden Faustschlag vorgehalten haben, klatschen eifrig mit. Brandt geht auf Vorwürfe ein, die er „Legende“ nennt: Nicht an der mangelnden Gefolgschaft der SPD–Bundestagsfraktion sei die Schmidt–Regierung gescheitert, „den FDPisten“ habe vielmehr der Sinn nach einem raschen Regierungswechsel gestanden: Er selbst könne guten Gewissens behaupten, Bedenken zurückgestellt zu haben, um, „wenn irgend möglich, Regierungsfähigkeit zu erhalten“. An dieser Stelle macht Brandt auch die Berufung der Griechin Margarita Mathiopoulos zur Pressesprecherin zum Thema, die bei den Genossinnen Neid hervorspülte und von Genossen des rechten Flügels zum Anlaß genommen wurde, alte Rechnungen zu begleichen. Ironisch bittet er diejenigen um „Verständnis“, die er „erschreckt“ habe, weil „ich es für möglich hielt, eine nicht mit Betriebsblindheit geschlagene intelligente Personen könne eine besondere Fähigkeit entwickeln, einer breiteren Öffentlichkeit unsere Politik nahezubringen“. Aber den Rassismus, der in dieser Debatte um die neue Pressesprecherin auch innerhalb der SPD hochgekommen war, katapultiert Brandt einfach aus Sozialdemokratie hinaus: „Mit sozialdemokratischem Stallgeruch“, sagt er scharf, habe die da aufgekeimte Fremdenfeindlichkeit nichts zu tun. Den Grund für den vorzeitigen Abgang faßt er in einem Satz zusammen: „Wenn aus einer Personalfrage eine Haupt– und Staatsaffäre wird und eine einflußreiche Minderheit von Mandatsträgern ausschert - dann ist es in meinem Dienstalter an der Zeit, die Seite umzuschlagen.“ Das Buch allerdings trage immer noch den Gesamttitel „Frei und links“. Auch dafür erhält er tosenden Beifall. Einen kurzen feinen Seitenhieb erhält auch Johannes Rau wegen seiner Wahlkampfstrategie der absoluten Mehrheit: „Mit Erstaunen habe ich zur Kenntnis genommen, was alles noch vor kurzem an erstaunlichen Thesen verkündet wurde: Als ob man nur bei eigener Mehrheit das Regieren anstreben dürfe.“ Manchmal schimmert der Emigrant durch, der vor den Nazis floh und in der Bundesrepublik nie richtig heimisch werden durfte: „Wenn ich mir ein Versäumnis vergangener Jahre besonders ankreide, dann dieses: daß ich mich - ohne Verluste zu scheuen - nicht viel energischer gegen die Schmähungen durch unverbesserliche und unbewußte Hakenkreuzler ins Zeug gelegt habe.“ Aber manchmal wirken die Sätze auch quälend und spröde, etwa wenn Brandt auf seine letzte Niederlage zu sprechen kommt: Seine Nachfolge konnte er nicht so regeln, wie er es gewünscht hatte. „Für mich bedeutet dieser Tag, wie vielleicht nicht alle voll ermessen können, einen tiefen Einschnitt“, sagt Brandt einmal kurz, und später fügt er hinzu: „Ich muß zugeben, daß die Zweifel wachsen und man sich fragt: Hättest Du Deiner Partei durch mehr Ansporn zu Kühnheit und Offenheit nicht noch besser voranhelfen können?“ Dann wird Brandt minutenlang gefeiert. Bei manchen fließen die Tränen, andere verziehen das Gesicht, um nicht loszurennen. Dazwischen laufen SPDler und SPDlerinnen mit der Plakette „Willy bleibt“ herum. Der Unterschied zur pastoralen Person eines Johannes Rau ist an dieser Stelle überdeutlich: Rau beschwört die „Politik der Reformen“ als erneute Perspektive der Sozialdemokratie, er verkörpert sie nicht. Und bezogen auf die Nürnberger Beschlüsse setzte er erneut den Akzent der traditionellen Rechten: Trotz dem Ja zu Nürnberg geht Rau auf Distanz zum Ausstieg aus der Atomenergie: „Nürnberg war doch nicht nur der richtige Beschluß zur Energiepolitik.“ Und: „Haben wir wirklich das ganze Nürnberg ... zu den Menschen gebracht?“ Die Wahlurne geht um: Hans– Jochen Vogel ist mit großer Mehrheit gewählt. Seine Rede steht für die Therapie, die er den Sozialdemokraten verordnet: Arbeit, Disziplin, Selbstbeherrschung und als neues Stichwort: „Reformpolitik“. Diese Empfehlungen sind eher formal, unter die Haut gehen sie nicht. Vogel formuliert als strategische Perspektive: Die „Herrschaft des Menschen“ über die von ihm selbst in Gang gesetzten Zerstörungen und technsichen Fehlentwicklungen müsse wiederhergestellt werden. Weitere Stichworte waren: „Fortentwicklung, Humanisierung des Sozialstaats, übergang zu einer Politik, die sozialen Schäden stärker vorbeugt“; Schutz der „Inneren Liberalität“. Vogel betont, „die Zeit der Reform ist keineswegs zu Ende. Die Zeit entscheidender Reformen liegt vor uns.“ Und schärfere Töne schlägt Vogel gegenüber dem politischen Gegner an. „Wir müßen unsere Gegner klar beim Namen nennen und offen ins Visier nehmen.“ Auch er habe kein Patentrezept gegen die Wahlniederlagen der SPD, aber die Ursachen müßten „schonungslos“ auf den Tisch. Bezogen auf das Gegrummel von rechts gegen die Nürnberger Beschlüsse sagte Vogel: „Mit mir wird es kein Zurück hinter Nürnberg geben.“ Aber der „linke Flügel“ erhielt seinen Dämpfer: Von 423 Delegierten stimmten 62 gegen Oskar Lafontaine, 8 enthielten sich. Daß sie diesmal Flagge zeigen wollten, hatten die Schmidt–Veteranen im „Seeheimer–Kreis“ angekündigt. Ursel Sieber
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen