„Wo die Fische in den Bächen schwammen“

■ Um Tschernobyl zeugen nur Soldaten in Schutzanzügen und Militärlastwagen von Leben / Alte Menschen wollen zurück in ihre Dörfer / Jugendzeitschrift wirft Parteifunktionären vor, ihre eigenen Kinder schneller als andere evakuiert zu haben

Tschernobyl (afp) - Die 50.000 Einwohner–Stadt Pripyat, unweit von Tschernobyl in der Ukraine. Einzige Anzeichen für Leben, das zur Zeit hier nicht mehr stattfindet, sind drei Paar Socken, die auf dem Balkon einer längst leeren Wohnung hängen - und die Gruppe westlicher Journalisten, die in dieser Woche den Unglücksort besichtigte. Drei Kilometer entfernt liegt der Reaktor, in dem es im April letzten Jahres zum bisher weltweit schlimmsten nuklearen Unfall kam. 135.000 Menschen mußten die Umgebung damals hastig verlassen, nachdem man ihnen gesagt hatte, sie sollten alles Notwendige für drei Tage mitnehmen. Militärtrupps sind heute noch immer emsig dabei, die kontaminierten Straßen, Plätze und Häuser mit großen Mengen Wasser zu reinigen. Bislang - und für die nächste Zukunft - die einzigen Töne, die man in der Geisterstadt vernimmt, deren Häuser aussehen, als hätte man sie soeben für einen kurzen Einkauf verlassen. „Vielleicht in zehn oder 15 Jahren, wenn wir technologisch vorankommen“, antwortet Alexander Kowalenko auf die Frage, wann denn hier wieder Menschen angesiedelt werden könnten. Er ist der Leiter der Behörde, die den Auftrag erhalten hat, die Umgebung von Tschernobyl in einem Radius von 30 Kilometern zu entgiften. Für die zur Zeit immerhin 3.000 (wieder) im Reaktor beschäftigten Arbeiter hat man Schlafstätten im weiteren Umkreis aus dem Boden gestampft, in denen sie im Zwei–Wochen–Rythmus leben - 15 Tage Arbeit, 15 Tage Erholung bei ihren Familien in Kiew oder anderswo. Die Reaktorblöcke eins und zwei sind wieder in Betrieb, der dritte soll bald ans Netz gehen, der vierte im kommenden Jahr. Kowalenko berichtet, den evakuierten Einwohnern von Pripyat sei es einmal gestattet worden, nach Hause zurückzukehren, um ihr Hab und Gut zu ho len. Danach habe man sie in fünf Kontrollstationen auf ihre Strahlenwerte hin untersucht. Zu Plünderungen sei es in der leeren Stadt lediglich zweimal gekommen. In der ukrainischen Hauptstadt Kiew sind im Gebäude der Feuerwehr Fotos zu besichtigen - Tschernobyl und Pripyat am Tage davor und am Tage danach. Vor dem 26. April 1986: Menschen, die sich auf den Straßen gemütlich unterhalten, parkende Autos. Daneben die Bilder weinender Menschen, unmittelbar nachdem man sie in Kenntnis von ihrer bevorstehenden Evakuierung gesetzt hat - der ersten seit dem Zweiten Weltkrieg. In nur sechs Stunden habe man sie abgewickelt. Die Offiziellen leugnen nicht, daß es bei der Evakuierung Pannen gab, daß beispielsweise die ländliche Bevölkerung den Strahlen viel zu lange ausgesetzt gewesen sei. Davon hatte die Jugendzeitschrift Junost in ihrer Juniausgabe ausführlich berichtet. Lange habe es „keine Anordnungen gegeben, wonach Kinder nicht mehr auf der Straße spielen dürften“, so in dem Bericht des Magazins. Konstantin Fursow, stellvertretender Präsident der Regierungsbehörde von Kiew, teilte den Journalisten mit, die Evakuierungen seien im Verhältnis zu den jeweiligen Strahlenbelastungen in den Regionen vorgenommen worden. Die am wenigsten gefährdeten Gebiete seien zum Schluß an der Reihe gewesen, am 7. Mai 1986. Zum Zeitpunkt der Katastrophe habe Südost– Wind geweht - in die Richtung von Pripyat. Fursow dementierte Anschuldigungen der Jugendzeitschrift, wonach Parteifunktionäre dafür gesorgt hätten, daß ihre Kinder bereits am 1. Mai auf die Halbinsel Krim geschickt worden seien, während andere, weniger privilegierte eine Woche länger auf ihre Evakuierung hätten warten müssen. Auf den ersten Blick ähneln die verstrahlten Gebiete mit ihren üppigen Feldern den anderen Regionen völlig, nur die Militärlastwagen und die Männer in Schutzanzügen passen nicht ins Bild. Unterdessen beginnen die Evakuierten, sich in ihren neuen Lebensräumen zurechtzufinden. Boris Davidenko - heute der Leiter einer landwirtschaftlichen Kolchose knapp 30 Kilometer vom Reaktor entfernt - gehörte zu einer Gruppe von 620 Bewohnern zweier Dörfer, die erst am 7. Mai geräumt wurden. Er berichtet, daß er und seine Nachbarn damals gleich nach Bekanntwerden des Unglücks das Vieh in den Ställen gelassen hätten, doch weiter auf den Feldern gearbeitet haben und seitdem ständig auf die Strahlenbelastung untersucht werden. Im nahegelegenen Tavira, einer Siedlung von 205 identischen Ein–Zimmer–Bungalows, die in nur zwei Monaten für die Evakuierten errichtet wurde, berichten ältere Frauen, trotz einiger Annehmlichkeiten, die man ihnen hier biete, wollten sie lieber zurück in ihre Heimatdörfer, „wo Fische in den Bächen schwammen“. Jüngere dagegen scheint es mehr in die Nähe von Kiew zu ziehen. Anne Penketh