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Berliner Blau für verseuchte Rentiere

■ Die Chemikalie baut radioaktives Cäsium im Körper ab / Norwegischen Rentieren soll nun die Schnauze damit gefärbt werden / Auch danach ist das Fleisch noch hochgradig verseucht, aber im legalen Rahmen / Besser strahlendes Fleisch mit Geschmack als mit Salzwasser entseuchtes, das fade schmeckt?

Aus Oslo Lothar Kunst

Zehntausenden norwegischer Rentiere wird in den nächsten Jahren die Schnauze blau gefärbt. Mehr noch: Auch Magen und Darm bekommen blaue Tönung, und das rentierische Stoffwechselendprodukt soll die karge grüngraue Landschaft Mittel– und Nordnorwegens tiefblau besprenkeln. Vor weniger dramatischem Hintergrund könnte man das Ganze für ein Happening halten. Doch den Urhebern der Ende Mai beschlossenen Aktion, den Beamten der Rentierzuchtverwaltung im nordnorwegischen Alta, war nach Kunst absolut nicht zumute. Denn in Alta herrscht Krisenstimmung. Das Reaktorunglück in Tschernobyl hat hier, 2.000 km entfernt, zu einer starken radioaktiven Verseuchung der Rentiere geführt und damit die von der Rentierzucht lebenden Samen an den Rand des Ruins getrieben. In der vorigen Schlachtsaison von September bis Februar mußten 20 Prozent des Rentierfleisches vernichtet oder an Pelztiere verfüttert werden. Und das, obwohl die norwegische Regierung im November 86 den zulässigen Grenzwert für die radioaktive Belastung von Wild– und Rentierfleisch im Handstreich von 600 auf 6.000 Becquerel/kg verzehnfacht hatte. (Argument: Der durchschnittliche Norweger ißt nicht mehr als zwei kg Rentierfleisch pro Jahr.) Noch in den vergangenen Wochen wurden Werte bis zu über 100.000 bq/kg gemessen. Schuld daran sind die Freßgewohnheiten der Rens, die sich im Spätherbst und Winter ausschließlich von Flechten ernähren. Gerade diese anspruchslosen Pflanzen aber wurden hochgradig verseucht, als in den letzten Apriltagen 1986 der radioaktive Regen niederging. Belastungen zwischen 100.000 und 200.000 bq Cäsium 137/kg fand man in Flechten der mittelnorwegischen Regionen Valdres und Nord–Trondelag. Der rettende Strohhalm „Wenn die Rentierzucht überleben soll“, folgert der Rentierforscher Bye in Alta, „haben wir gar keine andere Wahl, als zu unkonventionellen Mitteln zu greifen.“ Der rettende Strohhalm heißt Berliner Blau, ein 1704 vom Farbenkünstler Diesbach in Berlin erfundener Farbstoff, der sonst von Kunstmalern oder beim Stoff– und Tapetendruck angewandt wird. In den sechziger Jahren entdeckten amerikanische Wissenschaftler, daß Berliner Blau, oral eingenommen, im Darm radioaktives Cäsium bindet, das dann auf natürlichem Wege ausgeschieden wird. Der Farbstoff wird nicht resorbiert, er gelangt also aus dem Magen–Darm–Trakt nicht in die Blutbahn. Seine chemische Bezeichnung weckt dennoch böse Assoziationen: Ferriferrocyanid, unwillkürlich wird man an Cyankali oder Blausäure erinnert. „Nein“, versichert Prof. Knut Hove von der norwegischen Landwirtschaftshochschule in As bei Oslo, „die einzige bekannte Nebenwirkung des Stoffes ist wirklich, daß er blau färbt.“ Eingestehen aber muß er, daß es noch an Erfahrungen im veterinärmedizinischen Umgang mit der Chemikalie mangelt und seit bekannt wurde, daß der Großbrand im Baseler Pharmakonzern Sandoz im November vergangenen Jahres durch einen Schwelbrand eines Berliner–Blau–Lagers ausgelöst worden ist, wird er sich wohl auch noch Gedanken über die Lagerung des Stoffes machen müssen. Hove leitete den Versuch, den die Rentieradministratoren in Alta zur Grundlage ihrer Entscheidung machten, Berliner Blau im großen Stil anzuwenden: „Wir mengten dem Futter unserer Versuchsherde 24 Tage lang den Farbstoff bei“, berichtet der Wissenschaftler. „Anschließend war die durchschnittliche radioaktive Belastung des Fleisches von 10.800 auf 5.700 bq/kg gesunken.“ Nach norwegischen Maßstäben wäre dieser Rentierbraten also voll genießbar. Man plant, den Rentieren den Stoff durch Salzlecksteine zu verabreichen. Zunächst aber gilt es, skeptische Samen, die sich auf Anraten der Gesundheitsbehörden bereits seit einem halben Jahr aus Dosen statt vom Fleisch ihres Rens ernähren, von den Vorzügen der Chemie zu überzeugen. Ökonomischer Druck, etwa Entzug des staatlichen Schadensersatzes für zu stark verstrahltes Fleisch, steht vorläufig noch nicht zur Debatte. Unklar ist im übrigen, ob der blaue Farbstoff auch an Ziegen und Schafe verfüttert werden soll. Diesen Haustieren hatte man im vorigen Sommer als Sofortmaßnahme eine Cäsium–freie Zwangsdiät mit Beimengungen von „Bentonit“ verordnet, einer Mineralmischung, die ähnlich wie Berliner Blau Cäsium bindet, allerdings erst bei 100facher Konzentration. Von einer garantiert chemiefreien Methode zur Entseuchung radioaktiven Fleisches sah man in Norwegen unterdessen ab: Das bloße Auswaschen mit Salzwasser - so hatten Versuche ergeben - vermindert die Strahlung von Rentierfleisch um bis zu 98 Prozent, läßt aber von dessen Geschmack entsprechend wenig übrig. Wäßrig–fade Muskelfasern mochte man den Verbrauchern nicht zumuten, Bentonitbehandeltes oder bis zu 6.000 bq/kg belastetes Fleisch dagegen gehört in Norwegen inzwischen zum Alltag. Dennoch wurde von nennenswerten Umsatzeinbußen bisher nicht berichtet. Kein Wunder, denn in unerschütterlicher Gelassenheit vertraut man in dem atomkraftfreien Land den staatlichen Versicherungen, alles sei bester Ordnung.

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